Mit einem Mal ist es taghell an Deck der Aquarius. Die Scheinwerfer des Hilfsschiffs, das in der libyschen Such- und Rettungszone unterwegs ist, durchbrechen um vier Uhr am Sonntagmorgen die Finsternis der Nacht. Die Besatzung eilt mit Rettungswesten und Helmen an Deck. Die Rettungsboote Easy I und Easy II werden einsatzbereit gemacht.

Rettungswesten werden auf die Boote gebracht.
Foto: Bianca Blei

Etwa zweieinhalb Stunden davor war ein Anruf auf der Brücke eingegangen. Die Hilfsorganisation Watch the Med Alarm Phone kontaktierte den Kapitän. Ein Hilferuf war von einem überfüllten Holzschiff in der Gegend abgesetzt worden. An Bord sollten sich nach ersten Schätzungen 50 Personen befinden, darunter auch Frauen und Kinder. Das Boot füllte sich nach ersten Angaben bereits mit Wasser.

Funkkontakt mit Libyen

Die Verantwortlichen der beiden Hilfsorganisationen SOS Méditerranée und Ärzte ohne Grenzen (MSF), die die Aquarius betreiben, treten in Kontakt und informieren die Freiwilligen, dass sie selbst die Behörden in Kenntnis setzen müssen. Außerdem kontaktieren die beiden NGOs die libysche Leitstelle kurz nach dem Anruf per Mail und telefonisch. Die Libyer antworten nicht, also informieren die Verantwortlichen der Aquarius die maritime Rettungskoordinationsstelle in Rom. Die italienische Behörde gibt an, dass sich ein Schiff der libyschen Küstenwache – die Al Khifa – in der Region befinde.

Die Aquarius versucht mehrmals vergeblich Kontakt aufzunehmen. Nach mehr als 40 Minuten melden sich die Libyer. Der Funkkontakt ist ruhig, man einigt sich darauf, dass beide Schiffe das Gebiet absuchen sollen. Die Aquarius macht klar, dass sie ohne zu zögern eingreifen werde, wenn die Gefahr für die Menschen an Bord des Holzschiffes zu groß sei.

Das Holzboot füllte sich nach ersten Angaben bereits mit Wasser.
Foto: Bianca Blei

Die Al Khifa übernimmt die Leitung des Einsatzes, was die Besatzung der Aquarius anerkennt. Doch sobald das Hilfsschiff der NGOs das Holzboot gesichtet und seine Rettungsboote zu Wasser gelassen hat, droht die Lage zu eskalieren. Die Helfer der Aquarius beruhigen die Menschen an Bord und entdecken Frauen und Kinder, die sich nicht wohl fühlen und übergeben. Die Libyer weisen die Aquarius via Funk an, die Menschen nur mit Rettungswesten auszustatten und dann fünf Seemeilen Abstand zu nehmen. Später fordern sie eine Distanz von 15 Meilen. Die Helfer verneinen und sagen, dass die Lage zu gefährlich sei. Menschen könnten aus Panik ins Wasser springen, Familien getrennt werden, da sich bereits die kranken Frauen und Kinder an Bord befinden würden. Die Rettungsboote werden von der Brücke der Aquarius angewiesen, bei dem Holzboot zu warten und nichts weiter zu unternehmen.

Eine Dolmetscherin beim Verhandeln mit der libyschen Küstenwache.
Foto: Bianca Blei

Es ist mittlerweile sechs Uhr und die Sonne geht langsam auf. Die Anweisungen der Küstenwache werden aggressiver, es ist von "Schmuggel nach Europa" die Rede und es wird gedroht, die Besatzung der Aquarius nach Libyen zu bringen: "Wollt ihr nach Tripolis kommen und vor Gericht gestellt werden?" Drei verschiedene Stimmen melden sich per Funk von dem libyschen Boot. Eine Übersetzerin wird auf die Brücke geholt, die mit dem Schiff der Küstenwache direkt verhandelt.

Menschen klettern vom Holzboot in die Rettungsboote der Aquarius.
Foto: Bianca Blei

Um sieben Uhr erreichen die Libyer den Einsatzort. Nach weiteren Gesprächen lässt die Küstenwache die Aquarius die Menschen schließlich an Bord nehmen. Sie sagen, dass sie den Einsatz nicht mehr durchführen könnten, weil sich bereits Frauen und Kinder an Bord der Rettungsboote befinden würden. Ihre Bedingung: Die Aquarius müsse die Such- und Rettungszone sofort verlassen – mit Vollgas.

Das Schiff der libyschen Küstenwache nähert sich dem Rettungseinsatz.
Foto: Bianca Blei

Insgesamt 47 Menschen werden von den Helfern in dieser Nacht gerettet. Es handelt sich um 30 Männer und 17 Frauen, wobei sich auch 17 Minderjährige und eine Schwangere unter ihnen befinden. Drei Kinder sind unter fünf Jahre alt. Sie stammen mehrheitlich aus Libyen. Drei Menschen sind aus Syrien geflohen. Jeweils zwei Personen kommen aus Algerien, Marokko und Palästina. Ein Geretteter stammt aus dem Nordsudan. Die Frauen und Kinder wurden im Inneren des Bootes untergebracht, die Männer bleiben mit den elf Geretteten von Donnerstagfrüh am Achterdeck.

Such- und Rettungszone wird verlassen

Die Aquarius verlässt nun – wie von den libyschen Behörden angewiesen, die Such- und Rettungszone. In welchem Hafen sie anlegen wird, ist unklar. Nur einen Tag zuvor hatte die Besatzung erfahren, dass Panama die Registrierung des Schiffs nach einer Intervention durch italienische Behörden löschen will. Erst seit August weht die Flagge Panamas vom Mast der Aquarius. Zuvor hatte Gibraltar seine Flagge entzogen, da das Schiff Such- und Rettungsmission durchführen würde aber als Forschungsschiff eingetragen sei.

Italiens rechter Innenminister Matteo Salvini erklärte, diejenigen anzeigen zu wollen, die illegale Einwanderung begünstigten. Er warf der NGO vor, nicht mit der libyschen Küstenwache kooperiert zu haben. "Für diese Herren (der NGO) bleiben die italienischen Häfen geschlossen", so Salvini. Er will, dass die libyschen Behörden die Rettungseinsätze übernehmen und die Migranten wieder zurück in das Bürgerkriegsland bringen. (Bianca Blei, 23.9.2018)