Die Philosophin Lisz Hirn fordert religionsfreie Räume, wo wirklich Religionsneutralität herrscht – zum Beispiel in den Klassenzimmern, aber auch an den Universitäten.

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Ein Satz in dem vieldiskutierten Buch Kulturkampf im Klassenzimmer: Wie der Islam die Schulen verändert der Wiener Lehrerin Susanne Wiesinger lautet: "Es kommt immer öfter zu Konflikten aufgrund von Herkunft und Religion unter unseren Schülern." Es gibt aber auch immer mehr Menschen in Österreich, die keiner Religion angehören (wollen). 2016 bezeichneten sich 17 Prozent der Bevölkerung als "konfessionslos". Verschiedene Prognosemodelle des Vienna Institute of Demography der Österreichischen Akademie der Wissenschaften lassen ihren Anteil in 50 Jahren je nach unterschiedlicher Zuwanderung und Mobilität auf 21 bis 28 Prozent ansteigen. Die Gruppe der Menschen ohne religiöses Bekenntnis ist damit seit 2001 (zwölf Prozent) am stärksten gewachsen. Wie wird auf ihre Religionsfreiheit Rücksicht genommen? Zu wenig bis gar nicht, kritisiert die Philosophin Lisz Hirn.

STANDARD: Die Zahl der Menschen ohne religiöses Bekenntnis wächst in den meisten europäischen Staaten. Als "Normalfall" scheint jedoch noch immer das Bekenntnis zu einer Religion zu gelten. So sieht etwa das Regierungsprogramm von ÖVP und FPÖ einen "verpflichtenden Ethikunterricht für alle, die keinen konfessionellen Religionsunterricht besuchen" vor. Was lesen Sie aus der Gemengelage ab?

Hirn: Die Regierung hat ja verkündet, der Ethikunterricht soll nicht auf Kosten des Religionsunterrichts gehen. Das ist interessant, weil Religions- und Ethikunterricht andere Themen behandeln. Der konfessionelle Religionsunterricht hat natürlich auch spezielle Glaubensinhalte zu vermitteln, während ein Ethikunterricht einen Metadiskurs darüber starten soll, wie unser Zusammenleben aussehen kann. Und der soll nur für die sein, die sich von Religion abmelden, quasi die unmoralischen Nichtgläubigen? Da schwingen auch sehr viele Annahmen mit in Bezug auf das, was Nichtreligiösen, Atheisten und Agnostikern zugeschrieben wird.

STANDARD: Welche Annahmen? Wie ist es um den gesellschaftlichen Stellenwert von Nichtreligiösen hierzulande bestellt?

Hirn: In Österreich gibt es derzeit keine offizielle Interessenvertretung, aber zum Beispiel Gruppen wie die Atheistische Religionsgemeinschaft in Österreich (ARG), die erst um ihre offizielle Anerkennung kämpft. Daher sind sie quasi inexistent. Wenn es um Religionsfreiheit geht, wird der politische Raum ständig von religiösen Themen okkupiert, Religionsfreiheit im Sinne von negativer Religionsfreiheit – also frei von Religion leben zu wollen – kommt nie zur Sprache. Die, die sagen, für uns spielt der Glaube an Gott keine Rolle, kommen nicht vor. Ihnen wird noch immer, gerade auch in Österreich, unterstellt, moralisch suspekt zu sein. Es gibt Studien, die besagen, dass Menschen die sich als nichtgläubig bezeichnen, schlechtere Chancen haben, in gewisse Jobs oder hohe Ämter zu kommen, weil ihnen weniger moralisches Bewusstsein, weniger Demut zugetraut wird. Tatsächlich aber zeigte sich in einer berühmten religionspsychologischen Studie, dass Kinder nichtreligiöser Eltern sehr viel freigebiger und sozialer sind als die aus religiösen Familien, die dafür schneller und härter strafen. Ich bin oft bei interreligiösen Dialogen, wo nie Nichtreligiöse eingeladen sind, und da steht immer die Frage im Raum: Können wir ohne Religion sein? Würde dann nicht unser Zusammenleben moralisch zusammenbrechen?

STANDARD: Und, können wir?

Hirn: Ja, sehr gut sogar. Tatsächlich sind für moralisches Zusammenleben säkulare, nichtreligiöse Modelle wesentlich haltbarer und nachhaltiger als religiöse Modelle. Denn solange wir auf einzelne Religionen bauen, haben wir Glaubensannahmen, die sehr subjektiv und sehr stark von Hierarchien und Ungleichheitsgefällen abhängig sind.

STANDARD: Sie haben vorhin von den negativen Zuschreibungen an Nichtgläubige gesprochen. Wo zeigt sich das noch?

Hirn: Die wirtschaftliche Seite wird oft ausgeblendet: wie viel Geld vom Staat an die Religionsgemeinschaften fließt. Die Berichte der Internationalen Humanistischen und Ethischen Union, die sich in 40 Ländern darum bemüht, die Situation von Atheisten, Humanisten und Religionslosen herauszuarbeiten, zeigen, dass es eine eindeutige Bevorzugung der Religionen gibt. Wenn man sich das weltweit ansieht, muss man sagen: Die am schwersten diskriminierte Gruppe sind die Nichtreligiösen oder die abwertend so genannten "Gottlosen" – und nicht religiöse Minderheiten. Auch in Österreich bekommt man Geld, sobald man als Religionsgemeinschaft anerkannt ist, Religionsunterricht wird finanziert, oder man kann den Kriegsdienst verweigern. Für Nichtreligiöse ist das schlicht nicht möglich, zu sagen: Ich habe eine andere moralische Begründung, ich mache das nicht. Das ist eine klare Diskriminierung. Vom Blasphemieparagrafen einmal ganz abgesehen. Dazu kommen noch alltägliche Diskriminierungen. Wenn etwa Leute erzählen, sie mussten ihre Kinder auch auf Druck der Dorfgemeinde taufen lassen, weil es in der Schule zum Problem wurde, dass sie nicht zur Erstkommunion gehen.

STANDARD: Sie sagen, "agnostische Impulse", also Impulse von Menschen, die keine Annahme treffen wollen, ob es einen Gott gibt oder nicht, seien in immer komplexeren Gesellschaften besonders wichtig. Wieso?

Hirn: Agnostiker gehen von der prinzipiellen Unerkennbarkeit aus, vertreten also eine absolute Skepsis. Bei interreligiösen Problemen, Beispiel Kopftuch, kommen aber sehr wenige Atheisten oder Agnostiker zu Wort. Es ist immer ein Problem, das Religiöse unter sich regeln. Würde da ein Agnostiker ohne absoluten Wahrheitsanspruch und Glauben an ein göttliches Gebot mit am Tisch der Konfessionen sitzen, wäre das für die Diskussion natürlich sehr unbequem, weil er alles hinterfragt, aber es könnte ein echter Dialog stattfinden. Den gibt es bisher so nicht.

STANDARD: Sie vermissen also die zweite Dimension der Religionsfreiheit, nämlich zu sagen: Ich will frei von Religion leben?

Hirn: Ja. Bei uns wird vor allem die positive Religionsfreiheit betont: Ich bin frei, an etwas zu glauben, was ich will, und das auch ausleben zu können, soweit es mit den Gesetzen und der Trennung von Kirche und Staat vereinbar ist. Negative Religionsfreiheit würde dann allerdings heißen, dass ich auch als Atheist oder Agnostiker nichtreligiöse Räume fordern kann, wo Religionsneutralität herrscht. Die gibt es in Österreich de facto nicht.

STANDARD: Wo möchten Sie religionsfreie Räume geschaffen haben von der Politik?

Hirn: Das Klassenzimmer wäre schon mal ein guter Anfang, auch die Universitäten. Das hieße konkret, ausgehend vom geplanten Kopftuchverbot noch einmal wirklich über die Situation mit den Kreuzen in den Klassenzimmern nachzudenken, denn zu postulieren, ja, Religion ist Privatsache, aber dann – noch dazu als Partei, die sich in ihrem Programm als "christdemokratische Volkspartei" bezeichnet – zu sagen, wir bestehen darauf, dass die Kreuze dableiben, finde ich seltsam. Entweder wir haben religionsfreie Räume, dann müssen das tatsächlich religionsneutral sein, wo unwichtig ist, wer welche Religion hat. Das hieße aber auch, es muss einen verpflichtenden Ethikunterricht für alle geben und zusätzlich Religionsunterricht als Wahlfach.

STANDARD: Wie stehen Sie zu einem Kopftuchverbot in Kindergärten und Schulen?

Hirn: Das Problem daran ist, dass das Thema sehr gut läuft, weil es eine religiöse Minderheit betrifft. Ich würde dann aber auch gern diskutieren, wie es mit der religiösen Mehrheit aussieht, die jetzt römisch-katholisch ist, wo die Kinder schon mit acht Erstkommunion haben und dann gefirmt werden, also die ganze Zeit diesem Religionsunterricht ausgesetzt sind und bis 14, wenn sie religionsmündig sind, nicht die Wahl haben, sich zu entscheiden. Also wenn wir über Religionsfreiheit sprechen, dann über alle.

STANDARD: Zum Schluss die Gretchenfrage aus Goethes "Faust" an die Philosophin: "Nun sag, wie hast du's mit der Religion?" Wie halten Sie es denn mit der Religion?

Hirn: Ich war in meiner Jugendzeit gläubige Katholikin und bin aus theologischem Interesse zur Philosophie gekommen. Ich kann also die Faszination, auch die Gemeinschaftlichkeit von Religion nachvollziehen, aber die Art, Moral und Werte zu begründen, halte ich für äußerst fragil und problematisch. Ich würde mich als Agnostikerin bezeichnen, die kulturchristlich lebt, aber wenn es ganz persönlich wird, würde ich mich schon als leidenschaftliche Atheistin bezeichnen, aber eben mit dem Wissen, dass auch das ein Glaube ist und die einzig wissenschaftlich haltbare Position letztlich die der Agnostikerin ist. (Lisa Nimmervoll, 24.9.2018)