Romeo Castellucci verblüfft mit gleich zwei Varianten einer ästhetisch radikalen "Zauberflöte" in Brüssel.

Foto: Bernd Uhlig/De Munt La Monnaie

Ausgerechnet die "Zauberflöte" trübte heuer bekanntlich bei den Salzburger Festspielen die Premierenbilanz. Dafür erntete Romeo Castellucci für seine "Salome" Jubel von allen Seiten. Aus dieser Festspiel-Ungleichung machte Peter de Caluwe jetzt in Brüssel eine Stagione-Gleichung: "Zauberflöte" plus Castellucci. Hinter dem Gleichheitszeichen stehen quasi zwei Inszenierungen, die beide in ihrer Radikalität verblüfften.

Mit dem Einsetzen der Musik entfesselt der Gesamtkunstwerker zunächst eine atemberaubende Orgie der Symmetrie. Die Sänger und Tänzer in der Adelsmode der Entstehungszeit in himmlisch wolkigem Weiß. Das Personal wird wegen der Symmetrie kurzerhand entsprechend ergänzt beziehungsweise verdoppelt. Nur der König der Nacht (mit treffsicherer Koloratur: Sabine Devieilhe) ist das Singuläre vorbehalten. Der ganze erste Aufzug wird so zu einen Crescendo opulenter barocker Skulpturen, Ornamente und Tableaux vivants samt grandioser Balletteinlagen mit großer Geste und üppigem Federschmuck.

Gestrichene Dialoge

Sämtliche Dialoge sind gestrichen. Nur die manchmal bewusst durchscheinende wienerische Lautfärbung von Georg Nigls Papageno (der aus dem Sängerensemble herausragt) lässt unter dem (beziehungsweise den) weiß gepuderten Adligen den Vogelmenschen erahnen, den man zu kennen glaubt. Wir erleben eine komplett neue "Zauberflöten"-Erfahrung – irgendwo zwischen hochartifiziell und aseptisch kühl.

Am Ende kniet Sarastro (mehr Kraft als Würde: Gábor Bretz) mit einem Licht in der Hand an der Rampe, während hinter ihm ein chaotischer Kampf losbricht, der die bis dahin behauptete Harmonie des Symmetrischen ad absurdum führt. Im Graben ließ das Antonello Manacorda mit seinem beherzten Zugriff immer wieder durchscheinen. Gemeinsam mit dem ausgeglichenen Protagonisten-Ensemble gelingt ihm auch sonst eine packende musikalische Gesamtleistung, die sich freilich gegen eine starke Inszenierung behaupten muss.

Radikaler Wechsel

Die Pause bringt den denkbar radikalsten Wechsel der Bühnenästhetik. Und reichlich hinzugefügte neue Texte. Dabei steigt Castellucci nicht bei Schikaneders verfremdetem Freimaurerlogen-Raunen ein, sondern setzt neu an. Es beginnt mit dem Abpumpen von Muttermilch, an der uns drei Frauen an der Rampe teilhaben lassen, und mit Reflexionen über Zeit und Unendlichkeit – jetzt im tristen, von brusthohen Wänden umgebenen Raum mit Neonlampen und der Teilung von weiblichem und männlichem Personal links und rechts einer mobilen Wand in der Mitte. Die nunmehr herrschende Einheitskostümierung erinnert an Gefängniskluft. Wobei die beiden Gruppen von Laiendarstellern, die hier (auf Englisch und mit bewundernswerter Professionalität sprechend) zu Worte kommen, tatsächlich Gefangene ihres Schicksals sind.

Die Frauen berichten eine nach der anderen von ihrer Erblindung, die Männer von den Umständen, die ihnen gravierende Verbrennungen zufügten. Wenn beim Zueinanderfinden von Pamina (Sophie Karthäuser) und Tamino (Ed Lyon) die blinden Frauen nach und nach die geschundenen Körper der Verbrennungsopfer ertasten, ist das einer der berührendsten Momente einer Art von authentischem Theater, das auch schiefgehen kann. In dem Fall aber nicht schiefgeht, sondern irritiert und tief bewegt. Den einzigen Kontrapunkt zu diesem Theater der Tiefenlotung setzt Georg Nigl mit seinem Auftritt als liebeskranker Papageno. Den könnte er genauso in eine x-beliebige Inszenierung im bunten Federkostüm einfügen. Allerdings hier unterbrochen von einer Selbstreflexion seiner Einsamkeit.

Finales Fragezeichen

Wenn am Ende die Königin der Nacht als Frau allein auf der Bühne zurückbleibt, jetzt den Stab in der Hand hält und die Muttermilch vergießt, die die Frauen dort hineingefüllt hatten, bleibt die Frage, ob das mehr ein Ende oder Anfang sein soll. Jedenfalls ist es der Schlusspunkt (oder das finale Fragezeichen) hinter einer Inszenierung, die auch das letzte Vorurteil, dass die "Zauberflöte" eigentlich eine Oper für Kinder ist, ausräumt.

Mit der in Brüssel jedenfalls haben schon die Erwachsenen genug zu tun. Ob Castellucci diese Inszenierung in Wien oder Salzburg möglicherweise um die Ohren geflogen wäre, kann der Opernfreund am 27. September im Livestream bei Arte selbst beurteilen. Damit beginnt nämlich das neue Onlineangebot "Saison Arte Opera" des europäischen Kultursenders. (Joachim Lange, 24.9.2018)