Seit Jahren kämpfen Nachfahren der Harkis um Anerkennung ihrer Leistungen im Algerien-Krieg. Wie viele in Frankreich leben, weiß man nicht. Man geht von einer halben Million aus.

Foto: AFP / Raymond Roig

Nein, der Mann auf dem Traktor weiß auch nicht, wo das Durchgangslager der Harkis war. Er weiß nicht einmal, dass es hier einmal eins gab. Seltsam, die vierzig Baracken sind erst vor drei Jahren abgerissen worden. Der damalige Bürgermeister von Le Vigeant bezeichnete sie als "Schandfleck". Jetzt sind die Behelfsunterkünfte in der Vienne in Westfrankreich anscheinend schon wieder vergessen. Im Rathaus meint die Empfangsdame nur unwirsch: "Suchen Sie bei der Kartingpiste südlich der letzten Häuser." Dann bricht sie das Gespräch ab.

Mithilfe alter Schwarz-Weiß-Fotos, in deren Hintergrund noch bestehende Bauernhöfe auszumachen sind, lässt sich der Standort der einstigen Baracken – drei Kilometer weiter in der Heckenlandschaft – finden: Im kniehohen Gras rosten ein paar Eisenbetonpfeiler vor sich hin. Letzte Spuren einer Vergangenheit, über die Frankreich am liebsten den Schleier des Vergessens breiten würde.

Die Harkis waren im Algerien-Krieg (1954–1962) die Hilfstruppen der Kolonialfranzosen gegen die algerische Befreiungsfront FLN. Sie waren Algerier, etwa 300.000 von ihnen dürften gegen die eigenen Landsleute gekämpft haben, in speziellen Regimentern, die von französischen Offizieren geführt wurden. Die meist bäuerlichen Harkis betätigten sich als Frontkämpfer und Ortsaufseher, sie leisteten Hilfs- und Spitzeldienste. Nur die wenigsten traten aus Überzeugung in die französische Armee ein; häufiger waren es Zwang und Druck durch französische Anwerber, die durch die Dörfer zogen. Manchmal gab materielle Not den Ausschlag, manchmal der Umstand, dass bereits ein Vater oder Bruder unter den Kolonialherren Dienst leistete.

100.000 Harkis massakriert

Nach der Unabhängigkeit Algeriens kamen die Harkis vom Regen in die Traufe, verfolgte sie das siegreiche FLN-Regime doch als Landesverräter. An die 100.000 Harkis wurden umgebracht, zwischen März und November 1962 regelrecht abgeschlachtet. Der französische Präsident Charles de Gaulle weigerte sich im Juli jenes Jahres, die verfolgten Hilfstruppen nach Frankreich zu überführen. "Wir können doch nicht alle Muslime aufnehmen, die sich in ihrem Land nicht mit ihrer Regierung verstehen", meinte der General. Dass letztlich doch noch mehrere Zehntausend Harkis nach Frankreich kamen, war vor allem jenen französischen Offizieren zu verdanken, die genau wussten, dass es für ihre Soldaten den sicheren Tod bedeuten würde, sie in Algerien zurückzulassen.

In Frankreich kamen die Harkis in Durchgangslager, viele davon in Südfrankreich, aber auch weiter im Norden. "Man wählte bewusst verlassene Gegenden im Niemandsland, entfernte sie möglichst weit von der Bevölkerung", meint die Harki-Forscherin Fatima Besnaci-Lancou, die selbst als Kind nach Frankreich gekommen war. "Während die Franzosen in uns halbwertige Algerier sahen, beschimpften uns die Algerier als Kollaborateure der Franzosen. Wir hatten – und haben – den Status von Aussätzigen."

Ersichtlich wird das auch im kleinen Harki-Friedhof von Le Vigeant. Gut versteckt am Rande eines Gehölzes, beherbergt er ein Dutzend Gräber. Die Steinplatten liegen unausgerichtet, wie hingeworfen da, nur durch ein paar Latten eines Zaunes geschützt. Auf einer verwitterten Inschrift in Arabisch lässt sich noch das Datum 1965 entziffern.

1965, das ist schon über fünfzig Jahre her. Was ist aus den Harkis geworden, die das Lager von Le Vigeant überlebt haben? "Ich kenne keine mehr", meint der Historiker Jean-Luc Gillard, einer von wenigen, die sich in der Vienne um das Thema Harki kümmern. Die Zahl der heute in Frankreich lebenden Harkis und ihrer Nachfahren schätzt er auf 500.000. "Wer im Lager von Le Vigeant gewesen ist, geht aus keinem öffentlichen Geschichtsarchiv hervor", sagt er. "Wer davon heute noch am Leben ist, noch weniger."

Harki-Lager in Frankreich

Nur ein Name fällt dem Lokalhistoriker ein: In Châtellerault, hundert Kilometer nördlich von Le Vigeant, wohnt ein gewisser Boumédienne Bouhassoun. Dieser altgediente Harki war zwar nicht selbst in dem Lager, aber seine bereits verstorbene Frau Aïcha. In seinem geräumigen Wohnhaus erzählt der 79-jährige, rundum freundliche Veteran des Algerienkrieges, die Lebensbedingungen im Lager seien korrekt gewesen. Die Insassen hätten über Strom und fließend Wasser verfügt. "Die Männer erhielten eine Schnellschulung als Bauarbeiter, um dann auf alle Landesgegenden verteilt zu werden. Sie waren auf sich allein gestellt und mussten mit anderen algerischen Saisonarbeitern zusammenarbeiten, die mit dem FLN sympathisierten und die Harkis oft mit dem Tod bedrohten", erzählt Bouhassoun.

Bouhassoun ist "stolz", auf der Seite der Franzosen Krieg geführt zu haben. Wie es genau war, will er nicht erzählen. Lieber berichtet er, wie er in Châtellerault ein zweites Leben aufgebaut habe, mit drei Kleiderläden, die ihm zum Schluss selbst gehört hätten.

Zu Dank verpflichtet

Der großgewachsene Algerier fühlt sich Frankreich auch verbunden, weil sein Offizier alles daran gesetzt habe, dass "seine" Harkis nach Kriegsende zusammen mit den französischen Kolonialrückkehrern aus Algier fliehen konnten. "Schreiben Sie, dass uns ein gewisser Jacques Lallemand gerettet hat. Ihm sind wir zu ewigem Dank verpflichtet", meint Bouhassoun unter Tränen. Einem Bruder hätten die FLN-Schergen hingegen die Augen ausgestochen, bevor sie ihn umgebracht hätten, berichtet er. "Der Krieg war schrecklich, die Rache ebenso. Heute müssen wir diese Gefühle hinter uns lassen."

Der algerische Präsident Abdelaziz Bouteflika hat allerdings unlängst klargemacht, dass sein Land "noch nicht bereit" sei, sich mit den Harkis zu versöhnen. In Frankreich entdecken die französischen Politiker jeweils vor den Wahlen, dass eine halbe Million Harki-Nachfahren im Land leben. Die Präsidenten Jacques Chirac, Nicolas Sarkozy und François Hollande fanden in ihren Kampagnen jeweils Worte der "nationalen Anerkennung" für die Leistung der Harkis im Algerienkrieg. Nach den Wahlen geriet das Thema regelmäßig wieder in Vergessenheit.

Emmanuel Macron hatte im Wahlkampf eine Harki-Delegation empfangen und ihr eine auch "materielle" Anerkennung in Aussicht gestellt. Nach seiner Wahl im Mai 2017 richtete er eine Kommission ein. Aufgrund ihrer Empfehlung dürfte die Regierung heute, Dienstag, die Schaffung eines auf vier Jahre angesetzten Fonds über 40 Millionen ankündigen. "Brosamen", klagt Boaza Gasmi, Präsident des nationalen Harki-Verbindungskomitees CNLH, am Telefon; gerechtfertigt wäre für ihn eher ein Beitrag von 40 Milliarden Euro, namentlich für die Rentenansprüche der Harkis. "Wir wollen keine Sozialhilfe, wir wollen wie Kriegsveteranen und ihre Nachfahren behandelt werden." (25.9.2018)