Vaginas für den Sexshop. Die Objektivierung von Frauen geht am Sex für alle nicht spurlos vorbei.

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Keine Frauenzeitschrift ohne Sextipps. "Üben, üben, üben! Wie JEDE Frau zum Orgasmus kommt", so die beherzten Versprechungen der deutschen "Cosmopolitan". Als Anlass dient eine Studie des Kondomherstellers Durex: Nur 15 Prozent der (heterosexuellen?) Frauen würden beim Sex immer einen Orgasmus erleben. Abhilfe verschafft TV-Journalistin und "Sex-Expertin" Paula Lambert, die zu Beckenbodenübungen rät. "Ansonsten ist der weibliche Orgasmus, das ist das Knifflige dran, ein Erlebnis, das ganz viel mit der Psyche zu tun hat."

Dass Frauen durchschnittlich seltener einen Höhepunkt erleben als Männer, ist keine neue Erkenntnis: Regelmäßig belegen Umfragen den männlichen Vorsprung in Sachen Lustgewinn. Dieser Umstand ist jedoch keineswegs allein auf körperliche Voraussetzungen oder die allzu gerne mystifizierte "weibliche Sexualität" zurückzuführen, wie eine US-amerikanische Studie aus dem Jahr 2017 zeigt. Rund 52.000 hetero-, homo- und bisexuelle Personen zwischen 18 und 65 Jahren wurden dafür befragt, wie oft sie im vergangenen Monat bei sexuellen Aktivitäten mit der Partnerin oder dem Partner einen Orgasmus erlebt hatten. Während sich die Werte zwischen Schwulen (89 Prozent) und Lesben (86 Prozent) kaum unterschieden, tat sich zwischen heterosexuell lebenden Männern (95 Prozent) und Frauen (65 Prozent) eine gewaltige Kluft auf.

"Weiblicher" und "männlicher" Sex

Obwohl sich die kritische Sexualwissenschaft längst von ihren frauenfeindlichen Wurzeln emanzipiert hat, halten sich Bilder einer naturgegebenen passiven und zugleich geheimnisvollen Sexualität von Frauen hartnäckig. Allein die Unterscheidung zwischen einer weiblichen und einer männlichen Sexualität, die sich etwa durch Gegensätze wie passiv und aktiv, nach innen und nach außen gekehrt, unterscheiden würden, erachtet Heinz-Jürgen Voß für wenig sinnvoll. Der Biologe und Sozialwissenschafter, der an der Hochschule Merseburg Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung lehrt, lehnt solche Bilder als "holzschnittartig" ab.

"Sexualität entwickelt sich immer im Miteinander von Menschen, es spielen ganz unterschiedliche Faktoren eine Rolle, und die Entwicklung verläuft somit sehr individuell", sagt Voß im STANDARD-Interview. Und dennoch: Sexualität ist nicht von der Gesellschaft zu trennen, in der sie gelebt wird – und somit auch von patriarchalen Geschlechterrollen geprägt. "Sexualität ist selbstverständlich ganz eng mit dem Geschlechterverhältnis verwoben. In einer männerdominierten Gesellschaft, in der Frauen sexistisch herabgewürdigt werden, wirkt dieses hierarchische Geschlechterverhältnis auch auf sexuelle Beziehungen ein", sagt der Sexualwissenschafter.

"Frauenthema" sexuelle Gewalt

Gabriele Rothuber kann davon aus ihrer täglichen Arbeit berichten. Die Sexualpädagogin leitet den Salzburger Verein Selbstbewusst, der sexuelle Bildung für Kinder und Jugendliche, aber auch Eltern und PädagogInnen anbietet. "Mädchen beziehungsweise jungen Frauen ist es meist sehr wichtig, dass der Sex ihrem Partner gefällt. Gut im Bett zu sein heißt also nicht unbedingt, es im Bett gut zu haben", sagt Rothuber. Neben Aufklärungsworkshops, zum Beispiel zu Veränderungen in der Pubertät, setzt Selbstbewusst einen Schwerpunkt auf die Prävention von Missbrauch. Präventive Erziehung soll nicht nur dazu beitragen, dass Kinder keine Opfer, sondern auch, dass sie keine TäterInnen werden, so die Leitlinie des Vereins.

Selbstbehauptung, Selbstbestimmung – keineswegs ein "Frauenthema", wie Gabriele Rothuber betont: "Sexualpädagogische Arbeit muss früh ansetzen und alle Lebensbereiche miteinbeziehen. Insbesondere nach den Ereignissen in Köln haben wir laufend Anfragen für Selbstverteidigungskurse für Mädchen bekommen, allein die Mädchen zu adressieren, ist sicher nicht der richtige Zugang."

Wo Gewaltschutz und Grenzziehung vermittelt werden, sei zugleich das Sprechen über "gesunde" Sexualität notwendig, ist auch Heidemarie König überzeugt. Die Psychologin und Sexualpädagogin ist am österreichischen Institut für Sexualpädagogik und Sexualtherapien tätig und bietet unter anderem Sexualberatung für Frauen an. "Strukturelle gesellschaftliche Überlegungen, welche Bedingungen Menschen brauchen, um eine kompetente und gesunde Sexualität entwickeln zu können, sind parallel zu Schutzmaßnahmen unbedingt notwendig. Das ermöglicht einen wertschätzenden Umgang mit der eigenen Sexualität ebenso wie mit anderen", sagt König.

Potente Frauen

Der Ball liegt bei den Frauen, so sieht es indes Philosophin Svenja Flaßpöhler. Diese müssten erst einmal in ihre Potenz finden. "Erst wenn Frauen sich selbst und ihre Lust als potente Größe begreifen, befreien sie sich aus der Opferrolle", so wird ihr im Mai erschienenes Buch "Die potente Frau" beworben. Flaßpöhler sehnt sich nicht nur nach einer "neuen Weiblichkeit", als kontraproduktiv begreift die prominente #MeToo-Kritikerin die von ihr ungeliebten "Hashtag-Feministinnen", die Männer pauschal als Täter festschreiben würden. Frauen hingegen: die ewigen Opfer, von denen keine Mündigkeit erwartet werde.

Mündig zeigten sich zumindest jene Frauen – und Männer –, die im Zuge von #MeToo ihre Erlebnisse teilten, andere unterstützten und auch strukturelle Kritik übten. "Dass so viele Menschen sich an Debatten wie #Aufschrei und #MeToo beteiligt haben, ist doch sehr positiv. Wir müssen uns bewusst machen, dass wir trotz aller Fortschritte noch immer am Anfang stehen, Sexismus und sexuelle Gewalt wirklich grundlegend zu bearbeiten", meint Sexualwissenschafter Heinz-Jürgen Voß. Dazu gehöre auch, Männer als Betroffene wahrzunehmen. "Untersuchungen unter jungen Schwulen haben gezeigt, dass fast alle bei ihren ersten sexuellen Erfahrungen Dinge gemacht haben, die sie eigentlich nicht wollten", so Voß. Nicht zuletzt sei auch die Zuschreibung, Frauen könnten allein aufgrund körperlicher Realitäten keine sexuelle Gewalt ausüben, eine sexistische: Wo Macht ist, könne diese eben auch missbraucht werden.

Achtsame Gesellschaft

Von einem öffentlichen Sprechen über Sexualität und Geschlechterverhältnisse könne eine Gesellschaft also nur profitieren, wie SexualpädagogInnen nicht müde werden zu betonen. Politische Tendenzen, Sexualerziehung wieder ins Private verbannen zu wollen, alarmieren Gabriele Rothuber. "Sexualerziehung muss ganz früh ansetzen, VolksschülerInnen haben heute vielfach bereits Kontakt mit Pornografie. Viele Eltern können und wollen mit ihren Kindern nicht über Sexualität sprechen, und es mangelt ihnen beispielsweise auch an der Medienkompetenz", sagt die Sexualpädagogin.

Bedenken von AutorInnen wie Svenja Flaßpöhler, die angesichts emanzipatorischer Bewegungen ein Ende von Verführung und Erotik heraufbeschwören, setzt Heinz-Jürgen Voß das Ziel einer "achtsamen Gesellschaft" entgegen. "Wer verantwortungsvoll auf die eigenen Grenzen und jene von anderen achtet, braucht deshalb nicht übervorsichtig zu sein. Auch ein eigener beherzter Schritt über die eigenen Grenzen kann neue Erfahrungsräume eröffnen", sagt Voß. (Brigitte Theißl, 30.9.2018)