Die Stadt Zlín im Osten Tschechiens ist berühmt für ihre Industriearchitektur aus den 1930er-Jahren, nicht aber für ihr Essen. Das ist gut und richtig so, es gibt aber sogar hier kulinarisch ein bisserl was zu entdecken. Nach einem anständigen Kuttelsuppen-Frühstück im örtlichen "Buffet" am Hauptplatz bin ich über den Zlíner Markt geschlendert und dort an dem Stand einer älteren Dame vorbeigekommen. Vor sich, auf einem kleinen Klapptisch, hatte sie vier große Einmachgläser aufgebaut und daran ein Schild gelehnt, auf dem so etwas Ähnliches wie "Domácí Powidla" stand. So weit reicht sogar mein Tschechisch, dass ich umgehend zugeschlagen habe.

Mein Glas hat für osttschechische Verhältnisse ein Vermögen gekostet, etwa zwölf Euro für einen geschätzten halben Kilo (zum Vergleich: Unser Mittagessen später am Tag für vier kam im "Buffet" auf sieben Euro). Die Investition hat sich aber gelohnt: Es war randvoll mit einem dick-cremigen, dunkelvioletten bis braunen Powidl, duftend nach Obst und (gutem!) Tabak, mit einem herb-komplexen Geschmack nach Zwetschke, Karamell und Rauch und einer fantastischen Säure, die ihn bei weitem nicht nur für Süßspeisen geeignet macht.

Zurück in Wien habe ich trotzdem beschlossen, meine Beute am besten in ihrem natürlichen Lebensraum zu verkosten: in einer flaumig weichen, frischen Buchtel. Weil ich selbst kein großer Bäcker bin, habe ich die beste mir bekannte Buchtelbäckerin gefragt, ob sie nicht mitmachen möchte: Nora Kreimeyer, manchen vielleicht bekannt als jene Frau, die einst in der Saint Charles Alimentary, dann im Ludwig Van den superen Mittagstisch (und -nachtisch) zauberte. Zu meinem großen Glück hat sie Ja gesagt (und dann nicht am Powidl gespart).

Foto: Tobias Müller

Das besondere an Powidl ist, dass ihm traditionell im Gegensatz zu den meisten anderen Fruchtmusen kein Zucker zugesetzt wird – er besteht ausschließlich aus sehr lange eingekochten, sehr reifen Zwetschken. Richtig guten Powidl zu machen ist zwar nicht kompliziert, aber ein Haufen Arbeit. Ich tippe hier einmal wörtlich ab, was Rudolf Rösch in seinem Buch "So kocht man in Wien" von 1939 über Powidl schreibt:

"Die Zwetschken werden gewaschen, entkernt und ohne Zucker ein einem großen Topf langsam, unter fleißigem Umrühren, damit sie nicht anbrennen (manche behaupten zwar, es schmecke dann besser!), gekocht, bis das Powidl so fest ist, dass es kaum mehr fließt. An einem großen Topf Powidl hat man oft einen ganzen Tag und mehr zu kochen. Man kann es ruhig an mehreren Tagen fertig machen, wenn man nicht immer Zeit hat, sich dazuzustellen, was unbedingt nötig ist. Ist es dann fertig, so füllt man es in einen heiß ausgekochten Steingut- oder irdenen Topf, stellt den Topf noch ein wenig ins Rohr mit Oberhitze, damit sich ein kleines Häutchen bildet, bindet den Topf dann zu und bewahrt ihn nach dem Erkalten gut auf."

Vor allem im Osten Österreichs

"Powidla" beziehungsweise Powidl ist eine der relativ zahlreichen slawischen Fressvokabeln, die Eingang ins (Ost-)Österreichische gefunden haben. Sie dürfte von einem altpolnischen Wort für "umrühren" stammen, was auf den zeitintensiven Herstellungsprozess verweist. Wort und Mus dürften zu Monarchiezeiten aus dem Osten, aus Polen, Böhmen und Mähren, ins heutige Österreich gekommen sein. Franz Maier-Bruck beschreibt das Powidl-Kochen in seinem großen Standardwerk über die österreichische Bauernküche als Konservierungstechnik auch in Niederösterreich, nicht aber in den anderen Bundesländern. (Er merkt außerdem an, dass mitgekochte grüne Nüsse für besonders schöne Farbe sorgen und dass man, zwecks Konservierung, ein in Rum getränktes Tuch auf den Topf legen kann. Beides meiner Meinung nach sehr schöne Ideen.)

Was folgt, ist eine Mischung aus Noras Buchtelrezept und einem sehr alten Wiener Rezept aus dem späten 19. Jahrhundert. Wenn Sie die Buchteln nachmachen, müssen Sie natürlich für Ihren Powidl natürlich nicht extra nach Zlín fahren. Schaden wird es Ihnen aber ganz bestimmt nicht – die Architektur ist wirklich fantastisch.

Zlín ist zu einem Gutteil als Modellgartenstadt gebaut worden: Um das industrielle Zentrum liegen mehrere Siedlungen mit kleinen Ein- und Zweifamilienhäusern aus roten Ziegeln, alle mit eigenen kleinen Gärten, in denen jede Menge alte, knorrige Obstbäume stehen – auch viele Zwetschken. Als wir durch diese in Würde gealterte Utopie spazierten, waren die Bäume alle voller reifer Früchte, und ich stelle mir gern vor, dass die Zwetschken für meinen Powidl von einem von ihnen stammen.

Buchteln nach Luise Selevkowitz und Nora Kreimeyer

Wenn schon hausgemachter Powidl und Buchteln, dann aber richtig, haben Nora und ich uns gedacht und das schöne Wiener Kochbuch von 1883 von Luise Selevkowitz aus dem Bücherregal geholt. Selevkowitz führt darin fünf verschiedene Buchtelrezepte an. Wir haben uns für "Buchteln feinster Art" entschieden, weil es am meisten Butter enthält, statt ganze Eier nur edles Eigelb verwendet und Noras Standard-Buchtelrezept sehr nahekommt.

Foto: Tobias Müller

Noras Buchteln unterscheiden sich von dem, was man in Wien meist darunter versteht, in ihrer Form: Statt zu kleinen Bällen beziehungsweise Quadraten formt sie sie wie Schnecken. Dafür rollt sie den Buchtelteig rechteckig aus, bestreicht die unteren zwei Drittel mit Füllung, rollt ihn dann von unten nach oben zu einer Schlange beziehungsweise Rolle und schneidet von dieser etwa fünf Zentimeter dicke Stücke ab. Diese Schneckenform, meint sie, geht besser auf, ist luftig-fluffiger und sorgt dafür, dass der Powidl besser verteilt ist.

Auch Selevkowitz kennt diese Buchteltechnik, sie beschreibt in ihrem Buch ein Rezept für "gewickelte Zimt-Buchteln". Weil das aber trotzdem regelmäßig zu Protesten bei Noras Wiener Gästen führt, haben wir sicherheitshalber beide Versionen gemacht – einmal zur Schnecke, einmal klassisch geformt – und nebeneinander verkostet. Das Ergebnis: Nora hat mit ihren Einwänden schon recht – die klassischen Buchteln sind rustikaler, belohnen ihre Esser aber mit einer üppigen Powidl-Explosion, die ihresgleichen sucht. Halten Sie das, wie Sie wollen.

Foto: Tobias Müller

Ach ja, bevor wer schreit: Wir haben auf Vanillesauce zu den Buchteln verzichtet, zum einen, weil Selevkovitz sie nicht erwähnt, zum anderen, weil sie wahrlich gut genug waren, um ganz auf sich allein gestellt zu glänzen. Das soll Sie natürlich nicht davon abhalten, trotzdem eine dazuzureichen.

Zutaten:

160 Gramm Butter

5 Eidotter

250 ml Milch

1 Würfel Germ

560 Gramm Mehl

35 Gramm Zucker

5 Gramm Salz

Powidl zum Füllen

Staubzucker zum Bestreuen

Extra Butter zum Bestreichen

Erwärmen Sie die Milch auf Körpertemperatur und lösen Sie die Germ darin auf. Machen Sie sie nicht zu warm, wenn sie später auf das Mehl trifft, soll sie nicht heiß sein – das ist schlecht für die Glutenstruktur, und Ihre Buchteln werden nicht schön fluffig.

Foto: Tobias Müller

Mischen Sie (am besten mit einer Küchenmaschine) die Butter für den Teig, die Milch und das Mehl und geben Sie nach und nach die Eigelb dazu.

Foto: Tobias Müller

Warten Sie dazwischen stets, bis das eine Eigelb gut eingearbeitet ist, bevor Sie das nächste zugeben. Nora schwört, das macht einen Unterschied.

Lassen Sie den Teig auf niedriger Stufe kneten, bis er samtig aussieht und einen schönen Glanz hat, mindestens 10, gern auch 15 Minuten – bei diesem Schritt ja nichts überstürzen!

Foto: Tobias Müller

Für Schnecken rollen Sie den Teig wie oben beschrieben rechteckig aus, bestreichen und formen ihn.

Foto: Tobias Müller
Foto: Tobias Müller
Foto: Tobias Müller
Foto: Tobias Müller

Für die klassische Buchtelform stechen Sie Kreise aus, setzen Sie einen ordentlichen Klecks Powidl in die Mitte und schließen Sie den Teig darüber.

Foto: Tobias Müller

Sie sollten nun eine gefüllte Teigkugel in Händen halten.

Foto: Tobias Müller

Zerlassen Sie die restliche Butter. Streichen Sie eine Backform ordentlich mit Butter aus und gießen Sie einen Schuss Milch hinein – das sorgt laut Nora dafür, dass sie besonders saftig werden.

Legen Sie Ihre Buchten im Abstand von etwa drei Zentimetern zueinander hinein und pinseln Sie sie ebenfalls ordentlich mit Butter ein. Mindestens 30 Minuten gehen lassen und das Backrohr auf 180 Grad Umluft vorheizen.

Foto: Tobias Müller

Backen Sie die Buchteln auf mittlerer Stufe für etwa 15 Minuten, bis sie eine wunderschöne braune Farbe haben und herrlich duften.

Foto: Tobias Müller

Nehmen Sie sie aus dem Ofen und geben Sie ihnen einen letzten Butteranstrich. Schneiden Sie sie nun vorsichtig, am besten mit einem Brotmesser, auseinander, um ihre delikate Struktur nicht zu zerstören.

Foto: Tobias Müller

Schnell auf einen Teller legen, mit Staubzucker bestreuen und servieren, solange sie noch so wunderbar flauschig und warm sind.

Foto: Tobias Müller

(Tobias Müller, 30.9.2018)

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