Blieb mit Unterbrechungen dem Wiener Burgtheater nach 1987 treu: Ignaz Kirchner.

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Ignaz Kirchner 2007 in "Der Freischütz" in Salzburg.

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Auf der Bühne – zumal der seines geliebten Burgtheaters – entwarf sich Charakterschauspieler Ignaz Kirchner häufig so, als stünde er in Widerspruch zu sich selbst. Der Verschämtheit seiner respekteinflößenden Physis gewann er Mittel für seine Renitenz ab: als Aufrührer, der mit übersinnlichen Mächten im Bunde schien.

Kirchner, der geborene Wuppertaler (eigentlich: Hanns-Peter Kirchner-Wierichs), war ein pyknischer Jüngling. Seine späterhin kahle Erscheinung war die angsterregende einer E.T.A.-Hoffmann-Figur. Mit mahlenden Backen und schnarrender Stimme empfahl er sich als Fürst der Nacht – ein Faktotum, das dennoch verlässlich in den Kolonnen der Vernunft und des Fortschritts mitmarschierte, das heißt in seinem Falle: mit graziler Würde mitschlich.

An der Grenze zur Verrücktheit

Gleichwohl traf man den Buchhändlersohn nie in der Rolle des strahlenden Aufklärers an. Aus einem jüdischen Elternhaus stammend, führte ihn sein pädagogischer Lehrpfad über den Umweg einer Jesuitenschule an eine Lehreinrichtung für Schauspieler.

Als er als junger Mann vom Kollegen Jürgen Wilke aufgefordert wurde, sich anständige Beinkleider schneidern zu lassen, weil Frauen den jungen Mimen immer auf den Hosenladen starren würden, entgegnete Kirchner selbstbewusst: "Ich spiele keine jugendlichen Liebhaber!" Und als man ihm Anfang der 1970er am Bonner Schauspiel die Rolle von Handkes Kaspar anvertraute, da aß er auf offener Bühne Glas. Den Trick, erzählte Kirchner später achselzuckend, hatte er sich (lesend) vom Verleger Ernst Rowohlt abgeschaut. Er basiere auf der Sorgfalt des Backenmahlens.

Videoveitrag zum Tod von Ignaz Kirchner.
ORF

Ignaz Kirchner konnte an der Grenze zur Verrücktheit agieren. Dann gab er die widerstrebende Dienerfigur, den jüdischen Kauz, in dessen Gliedern das Unheil von Jahrtausenden stecken mochte. Mit seiner gepressten Stimme mahlte er alle Schrecken klein.

Stummes Fragezeichen

Dann gab er etwa den Widerpart zum großen Gert Voss, den er nicht erst als "Sonny Boy" begleitete, sondern schon vorher meist als stummes Fragezeichen. Oder als böser Einflüsterer in Inszenierungen von George Tabori. Oder als unerträglicher Ausbund von Tugend in Peter Zadeks unsterblicher Ivanov-Inszenierung. Oder als aasig grinsende Samuel-Beckett-Figur, die von Gottvater persönlich in das unerträgliche Geheimnis ihres Ablebens eingeweiht worden zu sein schien.

Als Textrezitator – von Kafka, Robert Walser oder Wilhelm Reich – war Kirchner ein unermüdlicher Anwalt der Moderne dort, wo sie am verschlüsseltsten ist. Ihm eignete zuletzt fast eine talmudische Aura, die ihn auch in den von ihm geliebten Wiener Kaffeehäusern umgab. Langsam verlassen uns jene Schlüsselfiguren, die mit dem Erscheinen Claus Peymanns an der Wiener Burg 1986/87 einen notwendigen Epochenbruch begründet haben.

Wer immer Ignaz Kirchner im Schauspielerhimmel droben in Empfang nimmt, er wird – so wie es einst dem Autokraten Zadek passierte – mit Widerworten eines Streitbaren rechnen dürfen. Als ihn Zadek auf der Probe wieder einmal provozierte, meinte Kirchner: "Ich bin so froh, dass du Regisseur bist!" – "Wieso denn?" – "Wenn du Psychiater wärst, würde ich jeden Tag einen Elektroschock bekommen." Jetzt ist Ignaz Kirchner 72-jährig nach langer Krankheit gestorben. Seine letzte Rolle war der Gerbermeister Kiil in Henrik Ibsens Ein Volksfeind (Regie: Jette Steckel). (Ronald Pohl, 27.9.2018)