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48-mal für den Nobelpreis vorgeschlagen und nie berücksichtigt. Letzteres auch, weil sie das falsche Geschlecht hatte: Lise Meitner.

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Mit Otto Hahn verband Meitner eine jahrzehntelange Zusammenarbeit und Freundschaft mit Höhen und Tiefen.

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Als die österreichische Physikerin Lise Meitner Ende Dezember 1938 ihren Neffen Otto Robert Frisch in Schweden trifft, steht ihre Welt auf dem Kopf. Nur Monate zuvor ist sie überstürzt aus Berlin geflohen, aus der Stadt, die drei Jahrzehnte lang das Zentrum ihrer Forschung und ihres Lebens gewesen ist.

Mit dem "Anschluss" Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im März 1938 war Meitnerakut gefährdet: Ihr österreichischer Pass war ungültig geworden, sie wurde nun als "reichsdeutsche Jüdin" betrachtet. Im Juli gelang ihr mit Hilfe von Freunden schließlich die riskante Flucht nach Schweden, wo sie eine bescheidene Stelle am Nobel-Institut erhielt. Ihre ersten Weihnachten im Exil verbringt Meitner bei Freunden in Kungälv, einem Städtchen im Südwesten Schwedens. Auch ihr Neffe kommt.

Neuer wissenschaftlicher Weg

Otto Robert Frisch, ebenfalls Physiker, findet seine Tante am Morgen des 24. Dezember 1938 nachdenklich vor. Sie drückt ihm einen Brief in die Hand, den sie kurz zuvor aus Berlin erhalten hat. Absender ist der deutsche Chemiker Otto Hahn, mit dem Meitner bis zu ihrer Flucht aus Berlin eng zusammengearbeitet hat. Aufbauend auf der gemeinsamen Forschung mit Meitner sind Hahn und sein Kollege Fritz Straßmann bei Experimenten mit Uran auf ein unerklärliches Phänomen gestoßen.

"Ich begriff, dass diese Resultate einen ganz neuen wissenschaftlichen Weg eröffneten", erinnert sich Meitner. Aber welchen? Aufgeregt brechen Meitner und Frisch zu einem Winterspaziergang auf. Unterwegs erweitern sie gedanklich das bisher anerkannte Atomkernmodell, bis ein "Auseinanderfliegen" des Nukleus möglich scheint – das könnte die Ergebnisse aus Berlin erklären. Nicht nur das: Bei einem solchen Prozess müssten gewaltige Mengen an Energie freigesetzt werden!

Ihre ersten Berechnungen werden bald bestätigt. Wenige Tage später veröffentlichen Hahn und Straßmann ihre Messergebnisse, kurz darauf legen Meitner und Frisch in einer Publikation schließlich die theoretische Erklärung vor und geben dem Phänomen erstmals den Namen, unter dem es rasch weltweit bekannt wird: Kernspaltung.

Forschung und Krieg

In den ersten Monaten nach der Entdeckung wird eine Vielzahl an Arbeiten zum Thema publiziert. Ab den frühen 1940er-Jahren verschwindet der Begriff jedoch aus den internationalen Wissenschaftsjournalen. Denn sowohl aufseiten der Alliierten wie auch aufseiten der Deutschen reifen die Pläne für ein Atomwaffenprogramm. Die Forschung zur Kernspaltung wird fortan geheim gehalten.

Um herauszufinden, wie fortgeschritten das deutsche Nuklearwaffenprojekt ist, werden unmittelbar nach Kriegsende einige deutsche Wissenschafter von den Alliierten interniert. Im britischen Farm Hall erfahren Otto Hahn und Kollegen im Sommer 1945 nicht nur vom Abwurf der US-Atombomben. Anfang Oktober treffen erfreuliche Nachrichten ein, jedenfalls für Hahn: Für die Entdeckung der Kernspaltung wird ihm der Chemienobelpreis zuerkannt.

Warum sowohl Meitner wie auch Straßmann und Frisch bei der prestigeträchtigen Auszeichnung unbedacht bleiben, beschäftigt Wissenschaftshistoriker bis heute. Dank der heutigen Quellenlage ist offenkundig, dass die Nichtberücksichtigung Meitners weniger wissenschaftlich begründet war denn von zahlreichen äußeren Faktoren beeinflusst worden ist. Dazu zählen interne Querelen der schwedischen Forscher. Auch die schlichte Tatsache, dass Meitner eine Frau war, scheint ihr im Ringen um den Nobelpreis geschadet zu haben.

Einflussreiche Gutachter

Ab Mitte der 1920er-Jahre sind Hahn und Meitner immer wieder für den Chemienobelpreis nominiert worden. Die ersten Nominierungen für den Physiknobelpreis gehen 1937 ein. 1939 wird der schwedische Chemieprofessor Theodor Svedberg, Mitglied des Nobel-Komitees für Chemie, damit beauftragt, die Arbeit von Hahn und Meitner zu evaluieren.

In seinem Bericht insinuiert Svedberg, dass Hahn die Entdeckung erst machen konnte, nachdem Meitner Berlin bereits verlassen hatte. Diese Behauptung könnte kaum falscher sein, war es doch Meitner gewesen, die Hahn 1935 angestoßen hatte, gemeinsam an Experimenten zum Beschuss von Uran zu arbeiten.

1941 soll Svedberg erneut eine Begutachtung über Hahn und Meitner verfassen. Ohne die persönlichen und politischen Umstände zu berücksichtigen, hebt er diesmal in seinem Bericht hervor, dass Hahn seit der Entdeckung der Kernspaltung eine Reihe wichtiger Ergebnisse hervorgebracht habe, während Meitner in den zurückliegenden zwei Jahren keine nennenswerten Arbeiten geschrieben habe. Dabei geht er weder auf ihre Vertreibung aus Deutschland ein noch auf ihre Schwierigkeiten im schwedischen Exil. Seine Conclusio: Hahn allein solle für die Kernspaltung ausgezeichnet werden.

Dutzende Nominierungen

In den folgenden Jahren schließen sich Evaluierungen für Hahn und Meitner dem Svedberg'schen Urteil an, und so kommt es, dass Hahn allein 1945 mit knapper Mehrheit rückwirkend zum Chemienobelpreisträger 1944 gewählt wird. Für Meitner gehen über Jahrzehnte dutzende weitere Nominierungen in den Kategorien Physik und Chemie ein.

Doch die Chemiker fühlen sich nicht zuständig – sie haben ja bereits Hahn ausgezeichnet. Den amtierenden Vorsitzenden des Nobel-Komitees für Physik wiederum, der die Nominierungen zu evaluieren hat, kennt Meitner nur zu gut: Es ist Manne Siegbahn, an dessen Institut sie in Stockholm arbeitet und zu dem sie ein schwieriges Verhältnis hat. Falls Meitner mit dem Nobelpreis geehrt würde, hätte Siegbahn stärkere Konkurrenz zu erwarten. Er selbst konnte durch den Physiknobelpreis des Jahres 1924 seine Machtposition unter den schwedischen Physikern absichern.

Siegbahn aktiviert sein Netzwerk, um einen Physiknobelpreis für Meitner zu verhindern. So wird Erik Hulthén, der einst bei Siegbahn promoviert hat, damit beauftragt, einen Evaluationsbericht über Meitnerund Frisch zu verfassen. Wenig überraschend fällt dieser ganz im Sinne Siegbahns aus: Meitner und Frisch seien "weit von einem umfassenden Verständnis" entfernt gewesen, es gebe folglich keinen Grund, sie auszuzeichnen.

Anhaltender Widerstand

Ein Nobelpreis für Lise Meitner ist damit vom Tisch. Dennoch wird sie noch mehrmals für den Nobelpreis vorgeschlagen. Eine Nominierung, die es an Deutlichkeit nicht mangeln lässt, geht 1961 ein. Der polnisch-britische Physiker Józef Rotblat begründet seinen Vorschlag für Meitner und Frisch: "Obwohl die Experimente, die zur Separierung und Isolierung der Spaltprodukte geführt haben, von Professor Hahn ausgeführt worden sind, ist es allgemein anerkannt, dass es Frisch und Meitner gewesen sind, die den Prozess als Kernspaltung erkannt und ihn richtig interpretiert haben. Frisch und Meitner sind daher die wahren Entdecker der Kernspaltung."

Über die Jahre wird Lise Meitner mindestens 48-mal für den Chemie- oder den Physiknobelpreis nominiert. Zu einer Auszeichnung kommt es aber nie. Meitner ist sich der Widerstände gegen sie bewusst. In einer Karte an Hahn im November 1946 schreibt sie: "Die Möglichkeit, dass ich Deine Nobelpreis-Kollegin werden könnte, hat sich schließlich erledigt. Falls Du daran interessiert bist, könnte ich Dir etwas darüber erzählen." Hahn hat darauf nie geantwortet. Was genau sie ihm zu erzählen hätte, ist unbekannt. (David Rennert, Tanja Traxler, 29. 9.2018)