STANDARD-Leser Hans. S, schon etwas älter, nach Eigenbeschreibung zugleich unternehmerisch tätig, aber eher ein "Roter", schreibt: "Das Image der Politik ist derart mies geworden, dass es für jeden in welcher Weise auch immer erfolgreichen Staatsbürger (und dessen Familie oder auch nur Umfeld) eine Zumutung ist, sich ernsthaft politisch zu betätigen".

Solche Zuschriften (und Postings) kommen zuhauf. Bei vielen dieser Diskussionen in öffentlichen Foren poppt dann die Frage auf: Was kann man in der Situation tun? Was kann ich tun?

Da gibt es etwas, das nennt sich "Zivilgesellschaft".

Das ist ein freiwilliger Zusammenschluss von Bürgerinnen und Bürgern, die sich jenseits von Familien, Staat und Unternehmen engagieren. Das "Zivil-" im Wort Zivilgesellschaft kommt vom lateinischen Wort für "Bürger". Es kann zumeist auch "zivilisiert" bedeuten, muss aber nicht.

Wobei ein solcher Zusammenschluss fast immer bedeutet, dass der Staat, die offizielle Politik, entweder ganz versagt (wie in der ersten Phase des Flüchtlingsstroms 2015, als im Lager Traiskirchen freiwillige Helfer einspringen mussten) oder dass die Menschen bereit sind, sich bei anderen Themen punktuell zu engagieren, aber nicht gleich an eine Partei oder Interessenvertretung binden wollen. Das reicht von der handgeschnitzten Initiative Einzelner bis zur ziemlich professionellen Bürgerbewegung. Dass das Internet und die sozialen Medien eine enorme Rolle spielen, muss man schon nicht mehr dazusagen. Und: Die Finanzierung ist meist privat.

Zivilgesellschaft ist auch kein neues Phänomen. Der Kampf gegen Zwentendorf und Hainburg, das "Lichtermeer" gegen Ausländerfeindlichkeit waren zivilgesellschaftliche Großaktionen.

Seit 2015/2016 steht die Betreuung von Flüchtlingen im Vordergrund. Die Allianz "Menschen.Würde.Österreich" (MWÖ) schätzt, dass sich auf dem Höhepunkt 600.000 Menschen als Helfer und "Paten" engagierten und es noch immer 300.000 bis 400.000 sind.

Die Ehrenamtlichen

Das kann zum Beispiel die Betreuung von jungen Afghanen durch den Verein Connect Mödling sein, wo sich unter der Leitung des pensionierten Architekten Wolfgang Buchebner rund 200 Personen en gagieren. Alphabetisierungs-und Deutschkurse; auch als Vorbereitung für HTL-Übergangsklassen; Aufnahme in österreichische Familien; Unterstützung im Asylverfahren und so weiter. Buchebner: "Man muss den Menschen klarmachen, dass wir Ehrenamtliche sehr wohl zwischen jenen unterscheiden, die sich bemühen, in unserer Gesellschaft Fuß zu fassen, und jenen, die untätig ihre Asylverfahren aussitzen oder gar kriminell werden."

Oder: Der Verein #aufstehen, der jedem, der sich für eine bestimmte Sache engagieren will, die Möglichkeit gibt, sich an einer Kampagne zu beteiligen und dafür die notwendigen "digitalen Tools" entwickelt hat. Geschäftsführerin Maria Mayrhofer: "In drei Jahren sind wir zu einer Community von über 100.000 Leuten angewachsen, die wir dabei unterstützen, dass ihre Stimme gehört wird: sich an Kampagnen zu beteiligen, durch Unterschrift bei Internetpetitionen, als Flashmobs, mit schlichtem Zettelverteilen." Man habe die Einrichtung einer Meldestelle gegen "Hass im Netz" durchgesetzt; oder dass Flüchtlingskinder doch in die Schule gehen durften; oder man habe den Kampf gegen die Zerschlagung der AUVA unterstützt. Mayrhofer: "Wir sind multithematisch. Viele stoßen zu uns, die noch kaum politische Erfahrung haben, aber etwas verändern wollen."

Maria Mayrhofer von #aufstehn: In der Zivilgesellschaft eine Stimme bekommen.
Foto: Heribert Corn www.corn.at

Oder: Die unabhängige Filmemacherin Gabriela Markovic, die schon 2016 eine Kurzfilmdoku mit über 120 Interviews zum Thema "Was heißt hier Demokratie?" mit mehr als 120 Interviews gemacht hat. Einfach, weil sie der Meinung war, Demokratie funktioniere nur dann, "wenn wir, die Zivilgesellschaft, uns aktiv daran beteiligen". Der Film wurde und wird von engagierten Lehrern in Schulen gezeigt.

Oder: Der ehemalige Raiffeisenchef Christian Konrad, der die erwähnte Allianz namens Menschen.Würde.Österreich gegründet hat, in der sich die verschiedensten Initiativen treffen: "Zuwanderung ist der Normalzustand für Österreich, und Integration geht über den Einsatz für geflüchtete Menschen hinaus." Die frühere Salzburger ÖVP-Landesrätin Doraja Eberle macht mit: "Ich möchte im Leben für etwas sein und nicht dagegen. Geben hat mich nie ärmer gemacht. Keinen einzigen Tag."

Oder: Der "Solidaritätspakt", eine Sammlung zweier dutzend zivilgesellschaftlicher Aktivitäten, deren Mitgliedsorganisation Epicenter.works sich zuletzt gegen illegale Vorratsdatenspeicherung eingesetzt hat. Allerdings, so der Solidaritätspakt: "Die Gesprächsbasis mit vielen Kabinetten inklusive des Kabinetts des Bundeskanzlers, des Vizekanzlers und des Wirtschaftsministers ist vollkommen verschwunden."

Zivilgesellschaft politisch: "Omas gegen rechts". Die Vereinigung älterer Damen unter der Leitung der Ex-ORF-Korrespondentin Susanne Scholl kämpfen gegen den "neuen Faschismus" in Österreich und Europa.
Foto: Christian Fischer

Vielleicht hat das etwas damit zu tun, dass etliche zivilgesellschaftliche Initiativen eminent politisch sind? Bei Demos treten immer wieder die "Omas gegen rechts" auf, gegründet von der Ex-Korrespondentin des ORF in Moskau, Susanne Scholl. Und: Alexander Van der Bellen verdankt seine Wahl zum Bundespräsidenten zu einem beträchtlichen Teil einer zivilgesellschaftlichen Initiative. Nach der Aufhebung der ersten Wahl versammelten sich einige engagierte Leute und beschlossen die Aktion "Es bleibt dabei".

Zivilgesellschaft, politisch: Unterstützung für Van der Bellen. Die von der Initiative "Es bleibt dabei" ausgelöste Bewegung mit dutzenden Gruppen als Verbündeten, darunter Chöre und Musikgruppen, trug 2016 wesentlich zur Wahl von Van der Bellen bei.
Foto: Norbert Pleifer

Die Historikerin Helene Maimann, die an führender Stelle beteiligt war, erzählt: "Wir waren ein paar Aktivisten, ein paar Profis aus der politischen Welt, rund 150 freiwillige Helfer und ein paar Sponsoren. Unabhängige Initiativen vernetzten sich: #aufstehen, ,Demokratie leben‘, ,Reden wirkt‘, ,Frauen gegen Hofer‘ – an die 70 Facebook-Gruppen wurden aktiv." Im Schneeballsystem wurden es immer mehr. Ein unerwarteter Hit waren Musikvideos auf Youtube wie Vanderstruck, eine Bilderassoziation mit AC/DC-Musik (433.000 Aufrufe) oder Unser Lied für VdB von Paul Gulda und Agnes Palmisano (84.000 Aufrufe). Oder Chöre, die plötzlich in Fußgängerzonen loslegten.

Maimann: " Wir setzten von vornherein nicht nur auf die linke Szene, sondern bezogen bürgerliche Liberale mit ein, etwa eine Gruppe von 100 Ärzten in Graz. Und wir wollten Norbert Hofer bewusst nicht heruntermachen, sondern eine positive Gegenerzählung liefern."

Aber "Zivilgesellschaft" bedeutet nicht nur "liberal" und "weltoffen". Auch die deutsche Pegida"(Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes") ist zivilgesellschaftlich organisiert und bringt leicht Tausende auf die Straße.

Allerdings nicht zivilisiert.

Zivilgesellschaft, rechts: Identitäre marschieren auf dem Kahlenberg auf. Die Realität ist, dass Zivilgesellschaft nicht nur "liberal" und "humanitär" bedeutet. Es gibt auch starke autoritäre und fremdenfeindliche Bewegungen mit recht großem Zulauf.
Foto: APA / AFP / Joe Klamar

Die Identitären, die zuletzt auf dem Wiener Kahlenberg das Ende der Türkenbelagerung feierten, sind sehr aktiv und bestens vernetzt. "Auch rechte Bewegungen gehören zur Zivilgesellschaft", sagt der deutsche Politikwissenschafter Edgar Grande vom Berliner Zentrum für Zivilgesellschaftsforschung in der "Süddeutschen Zeitung".

Paradox ist: Sowohl die Rechten als auch die Linken und Liberalen organisieren sich zivilgesellschaftlich, weil sie dem Staat und seinen Institutionen nichts mehr zutrauen. Nur die von ihnen angestrebten Ziele sind einander diametral entgegengesetzt.

Zivilgesellschaft kann man lernen

Die Rechten sind, weil ideologisch stärker motiviert, oft besser vernetzt und organisiert (auch in Sachen neue soziale Medien). Denn zivilgesellschaftlich zu arbeiten ist, wenn es funktionieren soll, keine Feelgood-Lifestyle-Angelegenheit, sondern muss professionell gemacht werden. Das kann man lernen. Sogar in Kursen .

Die Akademie für Zivilgesellschaft der Volkshochschulen Wien bietet solche Kurse an. Brigitte Papst, die Direktorin der Akademie, hat grundsätzliche Empfehlungen für potenzielle Zivilgesellschaftler: "Zu einer richtigen Planung gehört eine Recherche, ob es in Ihrer Umgebung Menschen gibt, die sich bereits um so etwas kümmern. Vielleicht kann man dort andocken."

Brigitte Papst, Direktorin der Akademie der Zivilgesellschaft, Wien.
Foto: Zinner

"Hat man den externen Rahmen abgesteckt, gilt es, die eigenen Möglichkeiten und Ressourcen ehrlich und langfristig zu beurteilen. Dazu gehört die Einschätzung, ob man auch nach einem halben Jahr noch ausreichend Zeit und Energie in das Projekt stecken kann. Können Sie sich spontan freinehmen, um tagsüber zum Beispiel einen Geflüchteten zu einem Termin beim Magistrat zu begleiten? Dann folgt die konkrete Planung. Es braucht einen Zeitplan bis zum Projektstart, Verantwortlichkeiten müssen geklärt werden, und die Kommunikation nach außen will geplant werden."

Das klingt wenig faszinierend. "Doch wenn man seiner eigenen Herzensidee dabei zusehen kann, wie sie wächst, kommt die Faszination von alleine. Wie bei Bernadette Vargas-Simon und Theresa Stadlmann, die auf ihrer Projektwebsite https://ich-wie-du.com mittlerweile zwölf Menschen mit Behinderung in Wort und Bild ihre Geschichte erzählen lassen.

Oder wie bei Sigrid Spenger, die gemeinsam mit anderen Ehrenamtlichen seit zwei Jahren Farsi sprechende Geflüchtete bei deren Amtswegen begleitet. Oder wie bei Edith Schindler-Seiß, die für ihr Stadtbäume-Projekt im Juni den Klimaschutzpreis des Bezirks Wien-Neubau erhalten hat. Sie alle formten ein erfolgreiches zivilgesellschaftliches Projekt."

Zivilgesellschaft, humanitär:
Während der Flüchtlingskrise 2015 engagierten sich tausende freiwillige Helfer und halfen etwa bei der Versorgung von Ankommenden an der Grenze oder auf Bahnhöfen.
Foto: Christian Fischer

Zum erfolgreichen Helfen bedarf es oft auch einer bestimmten psychologisch-politischen Technik. In der Szene kursiert etwa eine Lose-Blätter-Sammlung namens "Handbuch ‚Gemeinde mit Herz‘", ein "methodischer Leitfaden mit dem Ziel, Unterkünfte und Akzeptanz für Flüchtlinge in Gemeinden zu schaffen". Der Leitfaden wurde von Greenpeace in Kooperation mit führenden österreichischen Sozialorganisationen geschaffen und liest sich wie ein politisches Strategiepapier: "Lokale ‚Leader‘ sind die wichtigsten potenziellen Verbündeten: respektierte lokale Persönlichkeiten, ‚Opinion Leader‘, die tonangebend, gut vernetzt und tief im Zentrum der Gemeinde verwurzelt sind. Diese müssen von den Organizern (den Initiatoren) identifiziert werden: Hauptmann freiwillige Feuerwehr, Vorsitzender Alpenverein, Pfarrer, Arzt, Apotheker etc. Wichtig ist, dass die Initiative überparteilich ist, d. h. am besten sind keine Politiker dabei ..."

Kern der Strategie sei es, eine qualifizierte zivilgesellschaftliche Allianz aufzubauen. Es gehe " nicht um eine große Menge von Menschen im Zentrum der Initiative, sondern darum, dass die Kernunterstützer entschlossene, respektierte Persönlichkeiten sind, die eine zentrale Rolle im Gemeindeleben einnehmen".

Wer sind eigentlich die "Zivilgesellschaftler"? Das Forschungsinstitut Zivilgesellschaft (FiZ) der Uni Wien hat 2017 das Ergebnis einer Studie veröffentlicht: "Die Aktivist(innen) sind weiblich, soziale Aufsteiger(innen) – und teilweise mit Migrationshintergrund. Von allen Teilnehmenden der Befragung sind 72,4 Prozent weiblich. Mehr als zwei Drittel sind 26 bis 55 Jahre alt. Mehr als die Hälfte lebt in Wien. Migrationshintergrund etwa ein Drittel."

Wolfgang Buchebener von "Connect Mödling": Paten für Afghanen.
Foto: privat

Inzwischen ist die größte Gefahr, der sich etliche Flüchtlingshelfer ausgesetzt sehen, Ermüdung, Enttäuschung (zum Teil auch über die eigenen Schützlinge), vor allem Abwertung durch andere ("Ihr Gutmenschen ...").

Aber die stärkste Motivation ist nach wie vor der Wunsch, die demokratische Kultur zu bewahren: "Ich bin keine ‚professionelle‘ Filmemacherin", sagt Gabriele Markovic, die den Film "Was heißt hier Demokratie?" gedreht hat. "Ich habe aber das Thema wichtig gefunden. Und nachdem es niemand anderer gemacht hat, habe ich mich dazu entschieden, es einfach selbst zu machen. In einer Demokratie ist das möglich." (Hans Rauscher, 30.9.2018)