Zumindest auf dem Papier hat der frühere Premier Alexander Stubb gute Karten.

Foto: Imago/Maripuu

Knapp acht Monate vor den EU-Wahlen im Mai 2019 wird es diese Woche ernst mit der Kür der Spitzenkandidaten in den europäischen Parteifamilien, beginnend mit den Christdemokraten (EVP) und den Sozialdemokraten. Bei Ersteren wird neben Fraktionschef Manfred Weber – der sich bereits vor drei Wochen bereit erklärte und jüngst die Zerschlagung von Facebook andachte – mit dem früheren finnischen Premierminister Alexander Stubb (50) ein zweiter starker Kandidat erwartet. Er selbst will sich dazu noch nicht äußern. Am Dienstag gibt er in Straßburg eine Pressekonferenz, die Klarheit bringen wird. Nach STANDARD-Informationen wird er antreten.

Bei den Sozialdemokraten tritt bisher sicher nur der aus der Slowakei stammende EU-Kommissar Maroš Šefčovič an. Ob und wann Ex-Bundeskanzler Christian Kern seinen Parteifreunden in Europa eine offizielle Kandidatur schickt, wie er am Rande des EU-Gipfels in Salzburg ankündigte, ist noch offen. Letztere sind im EU-Parlament in Straßburg zur S&D-Fraktion zusammengeschlossen, einer Allianz aus "Progressiven und Demokraten", die nicht ganz deckungsgleich ist mit dem Zusammenschluss der Sozialdemokraten in der SPE.

Wie schon 2014 besteht das EU-Parlament auch dieses Mal darauf, dass nur jemand Erbe von Jean-Claude Juncker als Präsident der EU-Kommission werden kann, der sich als gemeinsamer Spitzenkandidat seiner Parteifamilie den Wählern stellt.

Diese Woche beginnt das Nominierungsverfahren offiziell, sowohl bei der EVP wie auch bei den Sozialdemokraten, Dauer: drei Wochen. Die Parteikongresse der EVP im November in Helsinki und der SPE in Lissabon Anfang Dezember werden dann nach US-Vorbild in "Primärwahlen" abstimmen und ihre Spitzenfrau oder ihren Spitzenmann formell küren.

Startvorteil für die Christdemokraten

Die Nase vorn haben dabei eindeutig die Christdemokraten. Mit Stubb bekommt der komplexe Prozess zur Nachfolge an der Kommissionsspitze zum ersten Mal eine sehr starke Dynamik, obwohl der Finne in seiner Parteienfamilie gar nicht als echter Favorit gehandelt wird. Als solcher gilt Fraktionschef Weber. Der überzeugte "Proeuropäer", ein CSU-Mann aus Bayern, der sich seit 2014 als ausgleichender Liberaler in seiner EU-Fraktion etablierte und zuletzt zu Parteifreund Viktor Orbán auf Distanz ging, hat bereits seit Monaten Unterstützer gesammelt. Die Mehrheit der Fraktion steht hinter ihm, Kanzlerin Angela Merkel aus dem einflussreichen Deutschland hat ihm CDU-Unterstützung zugesagt. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat nichts gegen Weber, obwohl er vom "System Spitzenkandidat" in der gesamten Europä ischen Union an sich nicht allzu viel hält.

Aber der 46-jährige Weber hat ein Manko, das der 50-jährige Stubb spielend ausgleicht: Der Bayer war nie in einer Regierung, nie Minister oder Premier. Er ist seit vierzehn Jahren "nur" EU-Abgeordneter. Stubb hingegen zog wie er 2004 nicht nur als Abgeordneter ins EU-Parlament ein.

"Vorzeigeexemplar" für höhere Ämter

Er ist von der Papierform her fast so etwas wie ein "Vorzeigeexemplar" für Qualifikationen, die ein EU-Kommissionspräsident gut brauchen kann, darin Jean-Claude Juncker nicht unähnlich. Er spricht fünf Sprachen fließend, neben seinen Muttersprachen Finnisch und Schwedisch auch Englisch, Französisch und Deutsch. Der 50-Jährige hat in den USA und an der Sorbonne Politikwissenschaft studiert, das Europakolleg in Brügge absolviert, hat als Berater von Kommissionspräsident Romano Prodi gearbeitet. Und das Wichtigste: Er gehörte acht Jahre lang der finnischen Regierung an, war Handels-, Außen-, Europa- und Finanzminister, ein Jahr auch Regierungschef. 2017 wechselte er als Vizepräsident in die Europäische Investitionsbank in Luxemburg.

Dementsprechend selbstbewusst wird Stubb sich der EVP präsentieren, so wie Weber als "Vertreter der nächsten Generation" nach Juncker und Merkel. Partei-Insider erwarten ein hartes Rennen bei den Christdemokraten, denn der Finne kommt aus einem kleinen Land, kann mit der Unterstützung vieler kleinerer Länder rechnen, die sich wegen der Übermacht Merkels nicht unbedingt einen Deutschen an der Kommissionsspitze wünschen. Stubb wird das ausspielen, aber auch den Umstand, dass er als Fan von Digitalisierung und Modernisierung gilt. Anders als der langjährige Europaparlamentarier Weber ist der Finne auch gegen eine Verkleinerung der Kommission: Jedes Land solle seinen eigenen Kommissar behalten. Auch das kommt in den Mitgliedsländern nicht schlecht an. (Thomas Mayer, 30.9.2018)