José richtet abends seinen Schlafsack als Bett her. Der 71-Jährige fühlt sich in seiner kleinen Wohnung "wie eine Schildkröte".

Foto: APA/AFP/STRINGER

Das Stehklo am Gang teilen sich mehrere Bewohner.

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Leben wie Gott in Frankreich, besagt ein Bonmot. Einzelne leben allerdings eher wie Schildkröten. Das sagt von sich jedenfalls José, Aushilfsangestellter einer städtischen Bibliothek, der aus Scham seinen Nachnamen nicht nennen will. Der 71-jährige Pariser wohnt im 14. Arrondissement, einem kleinbürgerlichen Stadtbezirk. Sein Wohnhaus in der Avenue Jean Moulin wirkt von außen gepflegt, die Eingangshalle und das Treppenhaus zeugen von einer typischen Pariser Adresse.

José lebt im obersten Stockwerk, wo sich traditionellerweise die einstigen "Chambres de bonnes", die Dienstbotenzimmer, befinden. Seine stark abgeschrägte Bleibe misst fünf Quadratmeter. Aber nur auf der Höhe der Steckdosen. Aufrecht stehen kann man in dem Kämmerchen einzig auf 0,9 Quadratmetern. So viel misst Josés offizielle Wohnfläche, die laut französischem Recht ab 1,80 Meter Höhe gemessen wird.

Wie eine Schildkröte

José hat sich in seinem Quadratmeter gut eingerichtet, auch wenn er sich oft auf allen vieren bewegen muss: Er fühle sich, sagt er, "wie eine Schildkröte", wenn er unter die niedrigsten Zimmerpartien krabbelt. Dort hat er seine geliebten Bücher verstaut – seine wichtigsten Abstellmöbel. Ein Bett hat der bewegliche Rentner nicht, da es an dem einzigen freien Platz bei nassem Wetter in einen Kessel tropft. José entrollt abends einen Schlafsack, den er bei Regen verrutschen kann. Der aus Peru stammende Bibliothekar hat Übung darin, wohnt er doch seit 25 Jahren in seiner Kammer in der Avenue Jean Moulin. Trotzdem fühlt er sich nicht so romantisch wie der arme Poet in dem berühmten Spitzweg-Gemälde. Immerhin zahlt er 250 Euro Miete im Monat.

Alltag in Paris? Zumindest auf Josés Stockwerk: Dort betragen die Wohnflächen der einzelnen Zimmer zwischen einem und sechs Quadratmeter. Für sie alle gibt es am Ende des Etagenkorridors nur ein Stehklo, das schon bessere Tage gesehen hat. José geht sich dreimal die Woche im Schwimmbad des Viertels waschen.

Ans Licht gekommen sind diese Wohnverhältnisse erst, als sich ein Mieter bei der Stiftung Abbé Pierre nach der Rechtmäßigkeit seines Mietvertrags erkundigte. Die Sozialarbeiter informierten ihn, dass es in Paris verboten sei, Wohnraum von weniger als neun Metern – stehbare – Fläche zu vermieten. Die Stiftung schätzt, dass in Paris dessen ungeachtet mehrere tausend Wohnungen mit geringerer Fläche vermietet werden. Der Fall der Avenue Jean Moulin sei leider "repräsentativ für die Missbräuche durch Mietwucherer", wie das Hilfswerk vergangene Woche mitteilte, nachdem es die Presse und die Behörden informiert hatte. Erst jetzt schaltet sich die Justiz ein. Sie stornierte die Mietzahlung und droht dem Eigentümer mit einer saftigen Buße und sogar Haft.

Neue Regelung

Am Rechtsrahmen fehlt es in Frankreich nicht. Ein nationales Wohngesetz, das auf Betreiben des französischen Präsidenten Emmanuel Macron Anfang 2019 in Kraft treten soll, erlegt den Hausbesitzern neue Pflichten auf; für die Gemeinden schafft es sogar die Möglichkeit einer "Bewilligung zum Vermieten". Die Pariser Rot-Grün-Regierung verzichtet auf dieses Dispositiv und zieht es vor, mehr Wohnkontrolleure anzustellen. Bürgermeisterin Anne Hidalgo sagt, in der Hauptstadt lasse sich das Problem nicht nur durch neue Vorschriften lösen – die Wohnungsnot sei schlicht zu groß.

Das zeigt sich auch im Quadratmeterpreis: Unter einer halben Million Euro kommt man beim Kauf einer mittleren Wohnung nicht mehr weg. Ähnlich teuer ist die Miete: Rund um die Avenue Jean Moulin zahlt man für eine 100-Quadratmeter-Wohnung monatlich an die 3000 Euro – das Doppelte des französischen Durchschnittsgehalts. Immer mehr junge Ehepaare mit Kinderwunsch ziehen deshalb in die Vorstädte von Paris – oder wohnen im Stadtzentrum auf immer kleinerem Raum. Der neueste Renner der Möbelgeschäfte sind ausklappbare Betten, die sich tagsüber in einen Esstisch verwandeln lassen. (Stefan Brändle aus Paris, 3.10.2018)