Boris Johnson ist beim Parteitag in Birmingham Publikumsmagnet für Brexit-Fans.

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Auf dem Weg zum Kongresszentrum in der Innenstadt von Birmingham steht ein Wegweiser zum "Paradise". Wer ihm folgt, gerät auf eine riesige Baustelle. Deren Ausläufer reichen bis zum Eingang des Komplexes, in dem noch bis Mittwoch die Delegierten der britischen Konservativen bei ihrem Jahrestreffen über die Zukunft streiten.

Rastlos umkreist die britische Regierungspartei unter Premierministerin Theresa May ihre eigene Riesenbaustelle. Einigkeit mag sich nicht einstellen: Sind da, knapp sechs Monate vor dem geplanten EU-Austritt, bereits die Fundamente eines glitzernden Prachtbaus zu sehen? Oder starrt die Nation doch nur in eine schier bodenlose Baugrube? Die Verunsicherung darüber setzt sich auf vielen anderen Politikfeldern fort, die für das Überleben der einst erfolgreichsten Partei der Welt nach acht Regierungsjahren womöglich noch größere Bedeutung haben.

Bevölkerung in der Krise

Junge Briten klagen seit Jahren darüber, dass ihnen der Weg zum Wohneigentum versperrt bleibt, weil viel zu wenige erschwingliche Immobilien gebaut werden. Trotz annähernder Vollbeschäftigung nimmt die gesellschaftliche Unsicherheit zu, die mageren Lohnzuwächse werden von der Inflation aufgefressen. Das nationale Gesundheitssystem NHS klagt schon vor der allwinterlichen Grippekrise über Personalmangel. Und zehn Jahre nach dem globalen Finanzcrash hat die Verschuldung der Privathaushalte auf der Insel wieder Rekordhöhen erreicht.

Es gab eine Vielzahl von sogenannten "fringe meetings", also Veranstaltungen am Rande des Parteitags, die sich gestern, Dienstag, mit solchen Fragen beschäftigten. Fast alle sind ebenso schlecht besucht wie der Konzertsaal, wo bei den Reden von Kabinettsministern regelmäßig mehr als die Hälfte der Plätze frei bleibt. Denn jene überzeugten Parteigänger unter den rund 124.000 Mitgliedern, die für das während der Woche stattfindende Jahrestreffen Zeit haben, interessieren sich letztlich ja doch nur für den Brexit.

Jubel für die Hardliner

Je härter, desto besser – das scheint ihr Motto zu sein. Sie jubeln, wenn von "Freiheit" und "globalem Handel" die Rede ist. Werden EU-Vertreter wie Ratspräsident Donald Tusk oder Kommissionschef Jean-Claude Juncker genannt, gibt es meist Buhrufe, höchstens Gelächter. Am liebsten jubeln die Delegierten Ultras wie Jacob Rees-Mogg zu, stehen auch für dessen zehntes "fringe meeting" noch im Nieselregen an.

Am Dienstagmittag aber gibt es nur einen absoluten Muss-Termin: den einzigen Auftritt des früheren Außenministers Boris Johnson, provokativ genau 24 Stunden vor Theresa Mays Abschlussrede terminiert. Tagelang haben Johnsons Büchsenspanner die Erwartungen geschürt: Diesmal werde der charismatische Kolumnenschreiber der Premierministerin endgültig den Fehdehandschuh hinwerfen.

Schon zwei Stunden vor Johnsons Rede formieren sich die Schlangen vor Halle 6, schwitzend harren Delegierte und Journalisten aus. Am Ende ist die Halle zwar gut gefüllt, aber auch Zuspätkommende finden problemlos noch einen Platz. Der einstige Brexit-Vormann wiederholt die schönsten Pointen aus seinen jüngsten Kolumnen, streut ein paar Witzchen ein und gipfelt in einer zahmen Mitteilung: Er wolle die Regierungschefin "darin unterstützen, zu ihrem ursprünglichen Plan zurückzukehren" – harter Brexit mit Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion also, nicht der vergleichsweise weiche Austritt, den May mit ihrem sogenannten Chequers-Papier anstrebt.

Erschöpfte Partei

Rebellion? Von wegen. Der Aufruf zum Sturz der bestenfalls respektierten, gewiss nicht geliebten Parteichefin bleibt aus. Prompt stufen die Buchmacher die Chancen des Möchtegern-Rebellen auf die May-Nachfolge herunter. Dabei wirkt deren Regierung 16 Monate nach der völlig unnötig vorgezogenen Wahl ideenlos und abgekämpft, erschöpft vom ewigen Brexit-Gezanke, ohne positive Vision für die Zukunft. Selbst die Chefin der erzkonservativen nordirischen Unionistenpartei DUP, Arlene Foster, von deren Unterstützung im Unterhaus Mays Minderheitsregierung abhängt, beklagt die "andauernde Negativität" aus London.

Und Johnsons Brexit-Paradies? Bleibt eine Baustelle. (Sebastian Borger aus Birmingham, 2.10.2018)