Am Schnapsstand kommt es zu einer spontanen Gesangseinlage. Festgehalten wird sie von den Umstehenden mit den Handys, das stützt das unter Beschuss von Hochprozentigem stehende Erinnerungsvermögen. Doch viel gibt es nicht zu memorieren. Bis zum Refrain kommt das heitere Duo gar nicht. Ob es an Textschwäche oder galoppierendem Durst liegt, bleibt ungeklärt. Die beiden Männer brechen das Lied ab, lachen lauthals und einigen sich auf noch ein Getränk.

Während die Frau vom Stand zwei Klare nachschenkt, jauchzen die beiden. Sie tragen krachlederne Hosen und blau-weiß -karierte Hemden zu roten Köpfen, die männliche Entourage ist ähnlich angetan, die Damen stecken in Dirndln. Das Ambiente umrahmt die Gruppe mit hölzernen Hütten, die alpinen Almen nachempfunden sind. Fünf solche gibt es, dazu drei Festzelte, das größte fasst 3500 Gäste. Würde nicht das Riesenrad als ein Wiener Wahrzeichen von oben herableuchten, man wähnte sich in ländlicher Umgebung.

DER STANDARD

Tatsächlich ist man auf der Wiener Wiesn. So heißt das heuer zum achten Mal stattfindende Volksfest auf der Kaiserwiese im Wiener Prater. Der Zuspruch ist enorm, an die 350.000 Menschen besuchten im Vorjahr die Veranstaltung; heuer sollen es nicht weniger werden. Im Stadtbild schlägt sich das vornehmlich über die ausgeführten Trachten nieder.

Schmiermittel der Brauchtumspflege

Wochen vor der Eröffnung tauchen sie in den Auslagen der Einkaufsstraßen auf, während der Wiesn konzentriert sich die ländliche Mode um den Praterstern. Der Verkehrsknotenpunkt ist seit Monaten mit Alkoholverbot belegt, aber an ihn angrenzend werden gerade 18 Tage lang tausende Liter Bier, Wein und Schnaps verinnerlicht. Das sind Schmiermittel jener Brauchtumspflege, die sich die Wiesn als kulturellen Auftrag auf die Schürzen geschrieben hat. 240.000 Liter Bier flossen im Vorjahr aus ebenso vielen Maßkrügen in das nach Kultur dürstende Publikum.

Progressives Brauchtum oder schon Fasching? Hauptsache lustig.
Foto: Christian Fischer

Die Schnapshütte erfreut sich beträchtlichen Zulaufs. Andere Stände bieten Zirbenprodukte feil, da gibt es Senf, hier Modeschmuck, weiter drüben Trachten. Ein Dirndl gibt es dort um 50 Euro. Geschäft mache er damit keines, sagt der Standinhaber, aber es sei eine Auflage gewesen, auch etwas ganz Billiges anzubieten. Beklagen will er sich nicht, das Geschäft laufe hervorragend. "Manche kommen im Straßengewand her und gehen mit einer kompletten Tracht nach Hause."

Pflicht ist das nicht. Die Wiesn gibt sich niederschwellig: "Come As You Are", zitiert sie Nirvana. Mit Tracht oder mit ohne. Ein Paar aus Taiwan spaziert durch das Geschehen. "Like Oktoberfest, right?" Yes, nur kleiner.


Von manch einer Bierbank ist ein ungewollter Abstieg zu verzeichnen, doch mehr als ein wenig Würde geht dabei nicht zu Bruch.
Foto: Christian Fischer

Über dem Paar ragt ein Wegweiser in den Himmel: Je nach Bedürfnis hat er Gösserhalle, Bankomat oder erste Hilfe im Angebot. Kuhattrappen aus Plastik verströmen fladenfreie Landidylle. Daneben sitzt der erste Totalschaden des Abends und müht sich mit seinem Handy ab: Der etwa 25-Jährige im Kleinkarierten scheint sich nicht zwischen Selfieschießen und Telefonieren entscheiden zu können, er murmelt Unverständliches. Zwei Polizisten passieren ihn und schauen ihn skeptisch an, der Totalschaden durch sie durch. Auf die Frage, wie viele Einsätze es pro Tage gebe, verweisen die Beamten message-control-geeicht an die Pressestelle der Wiener Polizei

Harmlose Veranstaltung

Diese teilt mit, dass sich die täglichen Delikte an einer Hand abzählen ließen. Sie stammen aus den Rechtsbruchdisziplinen Diebstahl, Streit oder Körperverletzung. Sexuelle Übergriffe gebe es bislang nicht, angesichts der Größenordnung sei das eine sehr harmlose Veranstaltung.

"Ein Prosit auf die Gemütlichkeit" lautet das Mantra der Wiener Wiesn, nicht jeder hält sich dran, es geht ganz schön ab.
Christian Fischer

Die Wiesn öffnet mittags, hochgeklappt wird sie um ein Uhr nachts. Viele der schon vom Lärm des Wurstlpraters geplagten Anrainer beklagen sich über den Lärm aus den Zelten – wenngleich die Musi schon um 23 Uhr aufhört. Dafür beginnt sie sehr früh.

Ab 12 Uhr wird in die Tubas gestoßen, Musikvereine aus den Bundesländern marschieren durchs Gelände, jedem Bundesland ist ein eigener Tag gewidmet. Tagsüber gibt es viel Laufkundschaft aus dem Prater, wer abends kommt, will es genauer wissen.

Party im Gänsemarsch

"I’m looking for Freibier" schmettert es aus einem Zelt. Das Lied ist bei David Hasselhoff entliehen, dem Knight Rider, der mit Looking For Freedom einst die Berliner Mauer zu Fall gebracht hat, wie er meint. Es ist der Lockruf der Wildnis. Das Zelt, aus dem es ertönt, ist gut gefüllt. Es gibt eine stimmige Lichtshow, auf der Bühne alpenrockt eine Band: Mit Quetsche und E-Gitarre huldigt sie den "Hiatamadln".

"Hiatamadln" aus vielen Ländern frohlocken angesichts zünftiger Alpenrockklänge.
Foto: Christian Fischer

Das Personal ist auf Profit geschult, was gut ist, wenn der Körper nach einem harten Tag auf dem Feld nach Bier und Braten verlangt. Die Kellnerin verschwindet zu "Zicke zacke, Zicke zacke" – und kommt beim "Hoi hoi hoi" mit der Bestellung zurück: Prost und Mahlzeit. Eine Maß Bier gibt es im Tausch gegen 10 Euro 10, der Schweinsbraten ist delikat, nur den Fitnessteller sucht man auf der Karte vergebens.

Zwischen den Bänken ziehen im Gänsemarsch Partywillige vorbei. Manch eine Tracht wirkt wie auf Jungfernfahrt, andere haben schon viel gelitten. Manche tragen ihr Tuch wie eine zweite Haut, andere Outfits erscheinen, wie ohne Spiegel gekauft.

"Prost, du Sack!"

"Ein Prosit der Gemütlichkeit", ruft der Sänger. Der Saal hebt die Krüge zu folgendem Dialog. Bühnenseitig: "Prost, ihr Säcke!" "Prost, du Sack!", lautet die Antwort. "Bitte!" – "Danke!" Call and response im Bierzelt; man lernt nie aus.

Immer öfter kommt es nun zu Gasterhebungen zum Zwecke des Volkstanzes. Männer tanzen mit Männern, Frauen mit Frauen. Ob das gelebte Toleranz oder fehlende Nachfrage ist, bleibt unklar, die Freude scheint da wie dort ungetrübt.

Verbrüderungsszenen zwischen den Gästen nehmen zu, die Treffsicherheit der Krüge beim Zuprosten eher ab. Aber wenn was danebengeht, ist es wurscht, der Nachschub dauert nie lang. Manche Kellner marschieren mit zehn Maß durchs Zelt; haben sie abgeliefert, schießen sie für die Gäste Fotos vom Zuprosten. Es gibt feuchte Bussis, an manchen Damen hängen Zuwendungen in Form von Lebkuchenherzen.

Neil Diamond im Elchtest

Die Band spielt Gassenhauer auf Gassenhauer. Sweet Caroline ertönt es aus den Lautsprechern "Oh! Oh! Oh!", singt der Saal aus der Schräglage zurück. Neil Diamond im Elchtest. Nicht jeder besteht ihn zu vorgerückter Stunde noch. Von manch einer Bierbank ist ein ungewollter Abstieg zu verzeichnen, doch mehr als ein wenig Würde geht dabei nicht zu Bruch.

240.000 Maß Bier haben im Vorjahr auf der Wiesn ihre Abnehmer gefunden, heure sollen es nicht weniger werden.
Foto: Christian Fischer

Andere Gäste gehen auf Nummer sicher und bleiben sitzen und schunkeln: Brauchtum und Party wiegen sich in Eintracht. Bilder frischer Biere werden auf Facebook gestellt, das Nasenpiercing in den Schaum der neuen Maß versenkt: "Schnö – moch a Foto!"

Überall herrscht beherrschte Ausgelassenheit, das Publikum ergeht sich an den Ritualen der Gaudikultur, die nicht selten beim Münchner Oktoberfest festgeschrieben werden: Feiern nach Protokoll. "Manche Dinge gehören so und nicht anders", sagt ein Gast auf die Frage, ob das Prosit auf die Gemütlichkeit nicht irgendwann fad wird.

Polizei zeigt Präsenz

Einmal wird es beim Eingang kurz ruhiger, als zehn Polizisten das Zelt betreten. Sie zeigen Präsenz, Bedarf an ihnen gibt es nicht. Außerhalb des Geländes ist der höher. Da sitzen und liegen während der Wiesnzeit doch viele Über-den-Durst-Trinker herum. Das ist nicht schön anzusehen, gehört aber wohl zur Folklore so eines Volksfests.

Den meisten ist mit einem Taxi geholfen. Die parken direkt auf der Hauptallee. Wie läuft das Geschäft? "Gut", sagt der Fahrer, grinst und macht eine Trinkbewegung mit dem Arm: "Sehr gut." (Karl Fluch, 6.10.2018)

Wohin in Wien nach einem harten Tag auf dem Feld? Auf die Wiesn. Das Volksfest im Prater läuft noch bis 14. Oktober. "Bitte!" – "Danke!"
Foto: Christian Fischer