Wie eine Erleuchtung? Bildungsminister Heinz Faßmann erklärt sein Pädagogikpaket nach dem Ministerrat im Bundeskanzleramt.

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Na warte, bis du in die Schule kommst ..." Diese ominöse Drohung gegenüber Vorschulkindern, die nicht "brav" waren, hat man zuletzt kaum mehr gehört; mit dem sogenannten Pädagogikpaket, das Bildungsminister Heinz Faßmann soeben präsentiert hat, erhält sie eine beunruhigende Aktualität.

Der Diskurs der türkis-blauen Regierung über Bildung, Schule und Lernen weist unüberhörbar einen neuen, schärferen Ton und einen neuen Stil auf, der sich mit seiner "sozialen Kälte" und "rohen Bürgerlichkeit" (Heitmeyer) markant von der kinderfreundlichen, förderorientierten und chancenangleichenden Pädagogik der letzten Jahrzehnte unterscheidet. Der bildungspolitische "Klimawandel" zeigt sich an Begriffen und Formulierungen wie "Bildungspflicht", "verschärfen", "nachweislich", "verbindlich", "präzise Regelung", "verstärkte Datenanalyse" etc., die das Bildungskapitel des Koalitionsabkommens in mannigfaltiger Abwandlung durchziehen. Aus türkis-blauer Sicht ist Schule nicht mehr der Ort, an dem mit pädagogischem Augenmaß, Solidarität und Empathie fair und differenziert gelehrt und gefördert wird; die Schule soll vielmehr eine Lernanstalt werden, für die es klare Voraussetzungen, strenge Regeln und harte Sanktionen gibt.

Nett zu Taferlklasslern

Inbegriff der türkis-blauen Härte und Kälte im Bildungsbereich ist die Rückkehr des Sitzenbleibens für achtjährige Kinder. In einer Fernseh- Pressestunde scherzte Faßmann, anscheinend ohne sich der vollen Tragweite seiner Aussage bewusst zu sein, mit den Taferlklasslern könne man ja "ein bisschen freundlicher" umgehen; unausgesprochen bliebe die davon abzuleitende Ergänzung "aber dann, liebe Kinder, zieht euch warm an".

Wäre Österreich ein "normales" europäisches Land, würde so etwas wie das Pädagogikpaket nach dem von der OECD empfohlenen Grundmuster erstellt werden:

  • eine Bestandsaufnahme der Stärken und Schwächen des Status quo eines schulischen Problems;
  • eine Vergewisserung, welche wissenschaftlichen Befunde es dazu gibt;
  • eine Erkundung der möglichen Optionen und Handlungsszenarien und schließlich
  • eine Regierungsvorlage als Produkt aus dem pädagogisch Wünschenswerten, dem wissenschaftlich Gesicherten und dem realpolitisch Machbaren.

Beim türkis-blauen Pädagogikpaket ist von so einer rationalen Vorgangsweise nichts zu merken. Es beruht auf Glaubenssätzen von Kanzler Sebastian Kurz und Minister Faßmann, auf der Berufung auf angeblich bewährte frühere Praktiken, auf angeblich zahlreichen Anrufen und E-Mails von Eltern an das Bildungsministerium und auf den forschen, von keinerlei Expertise kontaminierten Forderungen H.-C. Straches. Bei so einem Input gilt der englische Spruch: "One cannot make a silk purse out of a sow's ear".

Keines der Kernstücke des Pakets – die Wiedereinführung des Sitzenbleibens und der Ziffernnoten in Volksschulen, die abermalige Umbenennung der Hauptschulen sowie die Wiedereinführung von Leistungsgruppen – hält einer seriösen Prüfung stand. Dabei wäre es nicht schwierig gewesen, ein glaubwürdiges Paket zu erstellen. Man hätte sich dazu allerdings mit den Nationalen Bildungsberichten auseinandersetzen müssen, die das Bildungsministerium alle drei Jahre erstellen lässt, man hätte die Rechnungshofberichte zur Mittelschule lesen müssen, und man hätte die zahlreichen Gutachten berücksichtigen müssen, welche die OECD von internationalen Expertenteams zu allen möglichen pädagogischen Problemfeldern (auch zum Sitzenbleiben) erstellen lässt.

Für Achtjährige ist Sitzenbleiben eine grausame traumatische Erfahrung, die in den meisten europäischen Ländern undenkbar ist, weil es das Selbstkonzept der Kinder zerstört und in sehr vielen Fällen der Beginn einer negativen Schulkarriere ist. Eine OECD-Studie weist zudem nach, dass durch Sitzenbleiben das Leistungsniveau von Schulsystemen insgesamt sinkt, der Einfluss der sozialen Herkunft auf den Schulerfolg zunimmt und den Ländern zusätzliche Kosten erwachsen.

Faßmann sagte in einem TV-Interview, viele Eltern hätten im Ministerium angerufen und nach der Wiedereinführung von Ziffernnoten verlangt. Tatsächlich? Mit großer Wahrscheinlichkeit geht es den Eltern nicht darum, dass auf ihre Kinder die gesamte fünfstufige Notenskala angewendet wird, mit Vierern und Fünfern, die zum Sitzenbleiben führen, sondern sie möchten Einser und Zweier in Deutsch und Mathe, die ihren Kindern den Übertritt in die AHS ermöglichen.

Die Umbenennung der Neuen Mittelschule (NMS) in Mittelschule ist eine müßige Geste, die an deren Underdog-Status gegenüber der AHS-Unterstufe nichts ändert. Die NMS war nie "neu", sondern als umbenannte Hauptschule eine bildungspolitische Altlast, an der SPÖ-ÖVP-Koalitionen halbherzig und unglaubwürdig herumbastelten.

Zu den befremdlichsten Aussagen des Ministers im TV-Interview gehörte der Satz "Ich glaube an die Mittelschule". Was wollte er damit sagen? Wenn er tatsächlich glaubt, dass es sich dabei um die notwendige zweite Säule eines effizienten und fairen Sekundarschulsystems handelt, dann unterliegt er, wie die Nationalen Bildungsberichte, der Evaluierungsbericht zur NMS und die international vergleichende Bildungsforschung belegen, einem für einen Sozialwissenschafter peinlichen und für einen Minister fatalen Irrglauben.

Da hilft es auch nichts, dass er die Einführung von zwei Leistungsgruppen in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch ankündigt und damit begründet, dass dadurch den unterschiedlichen Begabungsprofilen der Mittelschüler Rechnung getragen werden kann, weil sie in verschiedenen Fächern in unterschiedlich anspruchsvollen Gruppen unterrichtet werden. Was der Herr Minister übersieht oder worüber er sich hinwegschwindelt, ist die Tatsache, dass dies gleichermaßen für die Schüler der AHS-Unterstufe gilt, die natürlich ebenfalls unterschiedliche Leistungsprofile und Interessen haben und Differenzierung bräuchten.

Die logische Konsequenz, mit der die Regierung offensichtlich überfordert ist: eine Gesamtschule bis zum Ende der Schulpflicht. Sie würde den Volksschulkindern den Auslesestress der vierten Klasse und den Volksschullehrerinnen die Agonie der psychometrisch ohnedies wenig verlässlichen Entscheidung zwischen Zweiern und Dreiern ersparen. Und in der gesamtschulischen Mittelschule wäre durch Leistungsgruppen, Wahlfächer wie Latein, Türkisch und Arabisch sowie durch flexible Formen der Differenzierung dafür zu sorgen, dass möglichst alle Kinder die beglückende Erfahrung des solidarischen Lernens in einer demokratischen Leistungsschule machen.

Aber vielleicht liegt nicht die gesamte ÖVP im bildungspolitischen Koma. Immerhin hat Beatrix Karl vor einigen Jahren mit dem cleveren Vorschlag "Gymnasium für alle" versucht, ihre Partei ins 21. Jahrhundert zu locken. Und was ist mit den Landeshauptleuten von Tirol und Vorarlberg, die noch vor einem Jahr (die sehr erfolgreiche Gesamtschule in Südtirol sehend) echte Gesamtschulmodellregionen einrichten wollten? Mander, wär' s nicht Zeit?(Karl Heinz Gruber, 4.10.2018)