Stephan Thome, "Gott der Barbaren". Roman. € 25,70/720 Seiten. Suhrkamp: Berlin 2018.

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Autor Stephan Thome.

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Selbst gefestigte Gemüter kann eine allzu exzessive Bibellektüre – ohne Erläuterung des vielfachen Schriftsinns – in tiefe Verwirrung stürzen. Das ist im Reich der Mitte etwa zur Hälfte des vorletzten Jahrhunderts nicht anders. Über ein paar wenige Häfen strömen Missionare nach China ein: verwegene Abenteurer wie Philipp Johann Neukamp, ein gescheiterter Revolutionär von 1848.

Der Auftrag zur Bekehrung ist, wie so häufig in der Bände füllenden Kriminalgeschichte des Christentums, ein bloßer Vorwand. In Wahrheit benützen Kolonialmächte wie das britische Empire die majestätischen Ströme Chinas wie den Yangtze, um Opium ins Land zu pumpen.

Bald schon reisen Sondergesandte von Queen Victoria in Kanonenbooten flußaufwärts und schießen eine der ältesten, dabei fragilsten Zivilisationen der Welt zu Klump. Dabei sind die Schäden, die die nach Schweiß und Unrast duftenden "Barbaren" anrichten, eigentlich bloß kollateraler Natur. Die Hofbeamten der gottgleichen Xianfeng-Kaiser in Peking wenden sich mit Grausen von den Eindringlingen ab. Die trocknen die Tinte auf den erpressten Handelsverträgen mit Schießpulver.

Verblüffendes Erzählwerk

Stephan Thomes verblüffendes Erzählwerk "Gott der Barbaren" erschöpft sich jedoch keineswegs in der Auflistung der geläufigen Anklagepunkte, die den Kolonialismus als Regime rücksichtsloser Unterwerfung adressieren. Der Hesse Thome, mittlerweile selbst in Taipeh wohnhaft, spannt auf über 700 Seiten ein haarfeines Kapillarnetz auf.

Dabei hat sein faktisch untermauertes Erzählen weitaus mehr mit der heutigen Globalisierung zu tun als uns lieb sein kann. Die Bruchlinie des Konflikts trennt nicht etwa die Orientalen von den Okzidentalen, wie die Gin trinkenden, müden, vor Heimweh kranken Lords Ihrer Majestät argwöhnen, die für die verkrüppelten Füße ihrer chinesischen Bettgespielinnen eine angewiderte Faszination empfinden.

Einige Bekehrte vor Ort ziehen aus dem Studium der Heiligen Schrift reichlich unerwartete Schlüsse. Chinas Konvertiten stellen ihr Wirken nicht nur unter den Schutz Christi. Sie rufen sich selbst zu geweissagten Mitgliedern der Heiligen Familie aus. Figuren wie der "Himmlische König" Hong Xiuquan scharen Hunderttausende Rebellen um sich und empören sich wider die kaiserliche Zentralmacht, indem sie Mittelchina mit Feuer und Schwert verheeren.

Unvorstellbares Leid

Unvorstellbares Leid plagt fortan die Provinzen. Die Sendboten Europas, nebst ihnen die vermaledeiten Missionare, weiden sich wie Schaulustige am Unglück des Bürgerkriegs, der sie nur insoferne berührt, als er ihre Handelsinteressen gefährdet. Das immer undurchschaubarer werdende Geschehen lockt Desperados an, Gangster wie aus Quentin-Tarantino-Filmen, deren Glasaugen Unglück verheißen und die an den Ufern der Reisfelder ihre Haschischpfeifen stopfen, ehe sie Einheimische über den Haufen schießen.

Aus zahlreichen Perspektiven beäugt Thome ein Geschehen, das ins Chaotische tendiert. Eine Kultur zerbricht in tausend Stücke, und niemand ist da, der an ihrer statt etwas Besseres zu installieren wüsste. Der Deutsche Neukamp, ein Missionar ohne Gottesglauben, schwindelt sich ins Camp der nach Erlösung gierenden Aufrührer ("die Langhaarigen"). Als deren Widersacher erscheint der kaiserliche General Zeng Guofan, der, ein Feldherr wider Willen, die kalligraphische Schriftkultur der Väter hochhält und seine Offiziere strafweise Essays über ihre charakterologischen Schwächen schreiben lässt.

Und da ist Lord Elgin, der alternde Diplomat der Queen, der im Grunde seines guten Herzens voller Empathie steckt und doch von den asiatischen Widersachern nicht das Geringste versteht. Der den "Garten der vollkommenen Klarheit" vor Peking aus Strafgründen niederbrennen lässt. Eine kulturelle Gräueltat, die sogar Victor Hugo im fernen Exil auf einer Kanalinsel fluchen und erschauern lässt.

Wimmelbuch

Thomes prächtig durchblutete Figuren können in der einen Sekunde über Hegel und Schelling sprechen und in der nächsten haarfein den Geruch wahrnehmen, den ihre Gastgeber verströmen: nach Zitrone und Kokos. Nie geht es in diesem Wimmelbuch gefühlig, dumm, herablassend oder heroisch zu. Am Horizont meint man Tolstois Epochenbild Krieg und Frieden zu erkennen, niemals riecht es penetrant nach gotischem Schinken wie in Felix Dahns Ein Kampf um Rom.

Zudem aber stehen die Figuren ihrem eigenen Handeln meist ratlos gegenüber, oder doch wenigstens skeptisch: "Den Weltgeist gab es wirklich, nur dass er kein liebender Gottvater war, sondern eine anonyme Macht, die zwar alles unterwerfen konnte, aber ihr eigenes Tun nicht begriff."

Nur zu begreifbar sind die folgenden Schritte, die die nächsten Inhaber von Chinas Kaiserthron ins Genick treffen. Die christliche Basis der Taiping-Empörer wird ausgerottet. Quellen sprechen von 30 Millionen Opfern im Zuge der Auseinandersetzungen. Jesu'

chinesischer Bruder verschwindet stillschweigend aus einer Welt, die für den Empfang seiner Frohbotschaft noch nicht bereit scheint. Lord Elgin taumelt, nach Indien versetzt, wie ein pyknischer Traumtänzer hinein in die Nacht der abendländischen Vernunft. Der Missionar Feldkamp aber schnappt sich einen wirren Erweckungsredner und zieht mit ihm weiter nach Amerika, wo die beiden Häuser aufstellen: "Und mir bleibt noch mehr Zeit, um über das Rätsel des Lebens nachzudenken."

Hochmut vor der Katastrophe

Zutiefst nachdenklich stimmt einen Stephan Thomes ebenso plastischer wie dialektisch fintenreicher Roman, der jeden Buchpreis verdient, der sich finden lässt. Während die Europäer die Nasen hoch tragen und von China als dem "kranken Mann von Asien" reden, steuert ihre angeblich überlegene Kultur bereits unaufhaltsam auf die Katastrophe von 1914 zu. Auch wir – im noch jungen 21. Jahrhundert – bedenken Menschen in allen Weltgegenden mit unseren Segnungen. Vieles, was wir als fundamentalistisch von uns weisen, auch weil es aus der Ferne zu uns kommt, sollte uns eher verwandtschaftlich bekannt dünken. Es enthält vielfach das wenig schmeichelhafte Zerrbild von uns selbst. (Ronald Pohl, 7.10.2018)