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Mit #MeToo sei ein "Echoraum" entstanden, so beschreibt es Isolde Charim; alles wurde ja vorher schon hundertfach gesagt – aber jetzt erzeugt es Resonanz.

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Es geht darum, ein feudales Modell der Geschlechterverhältnisse gegen ein demokratisches auszutauschen...

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"Wir wollen also annehmen, dass Krisen eine notwendige Voraussetzung für das Auftauchen neuer Theorien sind", schreibt Thomas Kuhn in seinem Klassiker Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Für politische Umbrüche gilt dasselbe: Irgendwann geraten die Dinge ins Rutschen, und dann taucht plötzlich etwas sehr Neues auf.

Ein "Paradigmenwechsel" tritt ein, wie Kuhn es nennen würde, und der Trick ist, dass zwar ein Vorlauf nötig war, eine Akkumulation bestimmter Ereignisse, der Umschwung selbst aber nicht kausal aus dem Vorhergehenden zu erklären ist. Er geschieht spontan, als Riss, als Sprung, als Wunder eines Zwischenraums. Nach dem Wendepunkt ist nichts mehr, wie es war – die alten Paradigmen erscheinen unverständlich, "der Wissenschaftler", schreibt Kuhn, lebt dann "in einer anderen Welt".

Heute scheint es, als seien die Enthüllungen über Harvey Weinstein und der Aufruf der Schauspielerin Alyssa Milano, per Twitter über sexuelle Gewalt zu berichten, solch ein Kippmoment gewesen. Hinter #MeToo gibt es kein Zurück, alles ist anders geworden, und ein Jahr und unzählige Debatten später, mag man sich die Frage stellen, wie solche Tipping-Points entstehen, welche Rolle Enthüllung und Doppelmoral dabei spielen und ob #MeToo nicht doch in quasi jakobinisch ausartendem Eifer übers Ziel hinausschießt, wie manche fürchten. Also: Wo kippt die Sache in ihr Gegenteil?

Welches Streichholz zünden?

Der Hashtag MeToo selbst ist bekanntlich älter als ein Jahr, er wurde 2006 von der Bürgerrechtlerin Tarana Burke hauptsächlich für die Black Community eingesetzt, um über sexuellen Missbrauch zu berichten. MeToo – das sollte gegen Verdrängen, Verleugnen und Abwehr für empathische Haltung stehen: Mir ist es auch passiert. 2006 hatte #MeToo eine begrenzte Reichweite und Wirkung, der Hashtag wurde nicht, wie man so schön sagt, "viral". Das geschah erst, als Alyssa Milano ihn am 15. Oktober 2017 wiederbelebte – sie twitterte gegen Mittag, am Abend hatte der Tweet 200.000 Antworten; auf Facebook reagierten binnen 24 Stunden knapp fünf Millionen Menschen mit zwölf Millionen Postings. Kein Wunder, wird man sagen, denn der Skandal um Harvey Weinstein war gerade angelaufen. Aber auch was Harvey Weinstein tat, hat man lange vor 2017 gewusst – es gab sogar ein #MyHarveyWeinstein. Das hat aber nichts bewirkt.

Interessant für das Phänomen Tipping-Point ist auch die Geschichte eines anderen Giganten, Bill Cosby, der 2018 endlich zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Dass der Komiker und Fernsehstar, ein Idol des schwarzen Amerika, Frauen mit K.-o.-Tropfen flachlegte, um sie zu vergewaltigen und dann wie Dreck liegen zu lassen, war ein offenes Geheimnis und auch mehrfach zur Anzeige gekommen. 2006 recherchierte Robert Huber, ein Journalist des Philadelphia Magazine, diese Fälle, aber sein Artikel "Dr. Huxtable and Mr. Hyde", der einen Skandal hätte hervorrufen müssen, ging komplett unter. Erst als 2014 der schwarze Stand-up-Comedian Hannibal Buress auf offener Bühne Cosby einen Vergewaltiger nannte, drehte sich der Wind. Plötzlich berichteten alle. "This was the match", sagte eine der von Cosby vor Jahrzehnten vergewaltigten Frauen im BBC-Interview.

Auf das Streichholz, das endlich zündet, warten unzählige Frauen – und Männer -, die gedemütigt, schweigend oder zum Schweigen gebracht zu Hause vorm Fernseher sitzen und zusehen, wie die Täter einen Erfolg nach dem anderen einsammeln, mit Ehren überhäuft in einem Rampenlicht stehen, das zu hell ist, um eine klare Sicht zu erlauben. Der Wind dreht sich, die Bombe geht hoch, eine Lawine gerät ins Rutschen, Dämme brechen – um Kipppunkte zu beschreiben, bleiben nur Metaphern.

Warum geschieht lange nichts?

Aber warum geschieht so lange nichts, warum fällt – wieder eine Metapher – dasselbe Korn vorher nicht auf einen fruchtbaren Boden? Mit #MeToo sei ein "Echoraum" entstanden, so beschreibt es die Wiener Publizistin Isolde Charim; alles wurde ja vorher schon hundertfach gesagt – aber jetzt erst erzeugt es Resonanz. Damit aus Kassandrarufen echte Botschaften werden, muss – so meine Vermutung – die "Sprecherposition" mächtig sein und aus dem betreffenden Milieu selbst stammen. Dem Opfer allein und der Fremden glaubt man nicht. Es müssen mehr oder weniger bekannte Schauspielerinnen sein, die Harvey Weinstein öffentlich anklagen, es muss ein Schwarzer sein, der Bill Cosby das Handwerk legt, und es muss ein Direktor des Canisius-Kollegs sein, ein Priester, der sexuellen Missbrauch an seiner Schule enthüllt, damit daraus wirklich ein öffentliches Thema wird. Macht wird von außen stabilisiert, aber solange sie in Kraft ist, kann sie nur von innen heraus geknackt werden. Vielleicht müssen die großen Männer aber auch, so wie mächtige Institutionen, ein gewisses Alter erreicht haben, bevor sie zu Fall gebracht werden können oder ganz von selbst fallen wie überreifes Obst.

Edgar Allan Poes Erzählung Der entwendete Brief hat es in der postmodernen Theorie zu einiger Berühmtheit gebracht. Ein Dieb trickst die Polizei aus, die sein Haus wochenlang und auf spitzfindigste Weise nach einem gestohlenen Brief durchsucht. Der kann aber nicht gefunden werden, weil er gar nicht versteckt ist, sondern offen am Kaminsims hängt. Das Motiv ist alt: Was direkt vor der Nase liegt, das Offensichtliche, alltäglich Banale sehen wir nicht. Wie unsäglich schlecht manche Menschengruppen behandelt werden, zum Beispiel.

Das alte Wahrheitsspiel

Das alte Wahrheitsspiel des "Hide and Seek", des Versteckens und Enthüllens, trifft Machtstrukturen nur bedingt. Natürlich hatte Harvey Weinstein ein mittlerweile berühmtes "Schweigekartell" errichtet, Geheimhaltungsvereinbarungen von seinen Opfern erzwungen, sogar Undercover-Agenten auf sie angesetzt; auch Bill Cosby zahlte Schweigegeld – und natürlich hat man in der katholischen Kirche fleißig Akten vernichtet oder manipuliert, die Fälle sexuellen Missbrauchs hätten belegen können. Selbstverständlich wird überall versteckt, verdeckt, beim Dieselskandal, bei Steueroasen, bei Geheimdienstaktivitäten, Korruptionsfällen – aber eben nicht ganz.

Die Wendung "offenes Geheimnis" beschreibt die ambivalente Figur ganz gut, auch bei sexuellen Übergriffen. Denn ein bisschen soll die Schweinerei ja auch herauskommen, zeigte die deutsche Publizistin und Schriftstellerin Barbara Sichtermann kürzlich in einem Radioessay: "Der Macho, der die Jungschauspielerin auf sein Zimmer zitiert, will, dass alle es wissen. Es soll sich rumsprechen. Selbst wenn er nachhelfen muss, damit sie ihm folgt, selbst wenn sie blaue Flecken oder Schlimmeres davonträgt – es soll bekannt werden. Sein Ruf, er sei ein erotischer Vielfraß, ist genau das, was ihm gefällt, was seine Führungsqualität unterstreicht."

Dass Frauen unter #MeToo massenhaft über ihre Erlebnisse mit sexueller Gewalt berichten, scheint nach dem Wahrheitsspiel der Enthüllung zu laufen. Nur geht es eben hier gar nicht um die Enthüllung von etwas Verborgenem, sondern um das Aussprechen von etwas Beschwiegenem. Wir müssen das Offenbare sehen/hören/verstehen können, den Brief am Kaminsims entdecken wollen (was nicht heißt, dass unterm Teppich nicht auch noch einer liegt) und die so beliebte Logik des "Hide and Seek" – den Krimithrill, Agentenroman – zumindest komplizierter denken.

Macht muss nicht viel verstecken. Ihrem Wesen nach ist sie ja sakrosankt und kann das meiste, was sie braucht, erzwingen oder erkaufen. Was sie zu Fall bringt, ist nicht Enthüllung, sondern Aufkündigung der Kollaboration; es muss sich der "Knebel der Loyalität" (Sichtermann) lösen, der bislang alle zu Komplizen gemacht hat. Enthüllung mag destabilisierend wirken, bleibt aber wirkungslos bis der Tipping-Point, der Wechsel der Perspektive, erreicht ist. Plötzlich fällt es allen "wie Schuppen von den Augen".

Sex ohne Macht

Der sicherlich wundeste Punkt an der #MeToo-Debatte ist, dass sie in ihren Konsequenzen zu heiß zu laufen scheint. Wie Dominosteine kippen die Herren um und von ihren hohen Posten. An Säuberung denkt man, an einen Robbespierre'schen Terror der Tugend, der in seiner Gründlichkeit auch ins eigene Lager zurückschlägt. Mittlerweile sind auch die frühe #MeToo-Aktivistin Asia Argento und die queere Kulturwissenschafterin Avital Ronell wegen sexueller Übergriffigkeiten angeklagt. Muss das sein? Muss man jetzt wirklich alle Kevin-Spacey-Szenen nachbesetzen, Netflix-Serien auf Eis legen und Woody Allen den Geldhahn zudrehen, sodass er 2018 das erste Mal seit 36 Jahren keinen Film herausbringen wird (siehe Porträt Ronan Farrow Seite A 3)? Spinnen die denn, die puritanischen Amerikaner? Vielleicht ein bisschen. Aber anders, als wir denken.

Es wird alles Mögliche gegen #MeToo in Stellung gebracht, etwa dass die Bewegung Frauen in der Opferrolle und der des bloß passiven Neinsagens festschreibe, wie die deutsche Philosophin Svenja Flaßpöhler in Die potente Frau argumentiert. Aber das ist nicht der Punkt: #Metoo ist eine Erhebung, eine Ermächtigung – und hier hat natürlich das Medium Twitter geholfen, über die schiere Masse Potenz und Solidarität zu erzeugen. Dass die Stimmen von Opfern heute eher gehört und ernst genommen werden als noch vor 20 oder 30 Jahren, zeugt überdies nicht von der Machtübernahme narzisstischer Eliten der Empfindlichkeit, wie etwa der Philosoph Robert Pfaller befürchtet, sondern von einem ziemlich vernünftigen Kulturwandel. Und überhaupt: Was ist denn falsch an Empfindsamkeit?

Macht, nicht Sex

Der Befürchtung, #MeToo führe zu einer neuen Prüderie und verklemmten Verbotskultur, mag man entgegenhalten, dass es um Sexualität in der ganzen Sache nicht wirklich geht, sondern um Macht. Natürlich, irgendetwas treibt die Herren und manche Damen dazu, ausgerechnet Sex zum Mittel ihrer Wahl zu machen – ein bisschen Lust und Trieb ist sicher auch dabei. Die Verbindung von Macht und Sex ist, wie wir wissen, komplex. Aber wenn Harvey Weinstein Potenzspritzen nahm, um den dicken Max markieren zu können, dann ist das eher bestürzend als Ausdruck irgendeiner Form von Sexualität.

Nein, es geht darum, ein feudales Modell der Geschlechterverhältnisse gegen ein demokratisches auszutauschen – das mag manchen unsexy erscheinen, aber sei's drum, wir könnten die Sexualität, oder besser noch Eros, ja an einer ganz anderen Stelle wiederbeleben: im Privaten. #MeToo war ein Tipping-Point. Die wahre utopische Revolution läge aber darin, geschlechtliche Rolle und gesellschaftliche Macht komplett zu entkoppeln.

Das klingt ein bisschen old-fashioned-sozialistisch, aber wie wäre es, wenn es keine Bedeutung mehr spielte, ob Mann oder Frau auf einem Posten sitzt? Weil Geschlecht reine Privatsache ist. Erst wenn Sex keine Währung mehr sein kann, um irgendetwas zu bezahlen, wird er zum freien, schönen Spiel. Erst dann ist ein Kompliment wirklich nur ein Kompliment. Von heute aus betrachtet scheint das unmöglich. Aber wer weiß, vielleicht ist es bis zu diesem Tipping-Point nur noch ein sehr weiter Weg. (Andrea Roedig, 6.10.2018)