David M. Wineroither: Rendi-Wagners Hauptgegner ist Kurz, nicht Strache.

Illustration: Felix Sunshine Grütsch

Worin bestand eigentlich das türkise Meisterstück? Kein Vorwurf: Sebastian Kurz war und ist durch und durch Parteimensch: ideologisch sattelfest und Berufspolitiker, keineswegs Gottseibeiuns von Bünden in der Partei, sondern langjähriger Obmann einer Teilorganisation. Kein Vorwurf: Der neue Leader gehört ebenso eindeutig zum Establishment wie seine Partei.

Dennoch wurde Kurz im öffentlichen Meinungsbild nicht alleine als Reformer wahrgenommen, als Macher, der die Balkanroute schloss und "die EU" nachhaltig auf einen restriktiveren Zuwanderungskurs festlegen wollte; vor der Folie eines Versteinerungsimages der Volkspartei und kraft seiner Jugend verkörperte er für nicht wenige einen Gegenent- wurf zum Politestablishment. Ein spielmitentscheidendes Image zu Zeiten grassierenden Politikerverdrusses.

"Party machine" ÖVP

Die ÖVP stand bereits vor dem Wahltriumph im Oktober 2017 geschlossen hinter ihm. Sie versprach sich, absolut plausibel, einen "Best of"-Mix aus Wolfgang Schüssel und Karl-Heinz Grasser: den Ex-Kanzler im politischen Alltagsgeschäft, den Ex-Finanzminister für den Wählerrummel. Eine wettbewerbsstarke Kombination. Während der Einfluss von Spitzenkandidaten auf Wahlergebnisse tendenziell überschätzt wird, ist er regelmäßig von überragender Bedeutung im Prozess der strategischen Neuausrichtung von Parteien mit dem Ziel, deren Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Der Umbau der Partei mündete in eine Ergänzung der "party machine" ÖVP um Elemente der Personalisierung – an der Spitze durch Kurz selbst, über neue Vorwahlmodelle und Logiken zur Auswahl von Seiteneinsteigern in die Breite gehend. Dass dieses Hybridmodell Umsetzung und Anklang fand, lag maßgeblich an der Person Kurz und seinen ausgeprägten politischen Talenten. Rhetorische Nachahmer fallen hingegen tief – das Beispiel der Seehofer/Söder-CSU.

Pamela Rendi-Wagner startet im Vergleich zu ihrem konservativen Widerpart mit einer ordentlichen Hypothek: fehlende Hausmacht in der Partei und fehlendes Mandat zur Organisationsreform, eine überraschende (Not-)Kür, geerbte Programmreform und Positionspapiere (darunter ein brüchiges "Integration vor Neuzuzug"). Den Wettstreit der Programme kann die SPÖ in gegenwärtiger Verfassung nicht gewinnen. Dazu wiegt das Migrationsthema, im Meinungsspiegel tentakelartig verbunden mit Bildungspolitik, Gesundheitswesen, Arbeitsmarkt und Staatsfinanzen, zu schwer und wirkt fortgesetzt als innerparteilicher Spaltpilz.

Hypothek mit Chancen

Und doch eröffnet diese Hypothek Chancen. Fast alles in dieser üppigen Sammlung ist dem Umstand geschuldet, es hier – in größtmöglichem Gegensatz zu Kurz – tatsächlich mit einer parteipolitikfernen Akteurin zu tun zu haben. Rendi-Wagner muss diese Gelegenheit ergreifen, muss ihren Hauptgegner in Kurz erkennen, nicht in Heinz-Christian Strache, und diesen nicht kopieren, sondern kontrastieren, und zwar im Persönlich-Politischen: gemessen an der Biografie und vermittelt durch Lebensart; gemäß Führungsstil und Politikverständnis. Der Kanzler wird perspektivisch dort am verwundbarsten sein, wo ihm in der Vergangenheit ein Kunststück gelungen war: sein relatives Anti-Establishment-Image trotz lebens- und berufsweltlichen Aufgehens in der Volkspartei von frühestdenkbaren Zeitpunkten an.

Die SPÖ hat deshalb mit Rendi-Wagner keine schlechte Wahl getroffen, um neue Wählerschichten zu erschließen und eine gegnerische Wählermobilisierung zu erschweren. Weniger optimistisch fällt der Blick auf die übergeordnete Mehrheitsfrage aus: Es ist aus koalitionstechnischen Gründen kaum verständlich, warum die SPÖ unter Christian Kern – und in absehbarer Beibehaltung unter Rendi-Wagner, die im Eintreten für die Gleichheit wirklich aller Menschen ein "Alleinstellungsmerkmal" der SPÖ ortet – bevorzugt im Wählerteich der Grünen auf Stimmenfang geht: Man steigt sich auf die Füße, wo Arbeitsteilung angeraten wäre.

Direktes Duell

Die Mehrheit der Österreicher tickt politisch rechts. Wie sollen dann Mehrheiten organisiert werden unter anhaltender Entsagung der freiheitlichen Option? Dass das Kräfteverhältnis, wie es sämtliche Umfragen stabil ausweisen, zwischen Schwarz-Blau einerseits und Rot-Pilz-Grün anderseits (bei cleverer bikoalitionärer Positionierung der Neos) am Ende des ersten Amtsjahres noch immer beinahe zwei zu eins beträgt, ist weder durch Regierungs- noch Oppositionsperformanz erschöpfend zu erklären: Der Honeymoon der Wahlgewinner sollte vorüber sein, die Eingewöhnungsphase der neuen Oppositionsparteien ebenso.

Die Kür Rendi-Wagners erfolgt unter erschwerten Bedingungen, eröffnet aber eindeutig Chancen: im direkten Duell gegen Kanzler Kurz, das die neue Parteivorsitzende suchen muss. Die SPÖ treibt gleichzeitig selbst im für sie optimistischen Szenario auf eine Wiederherstellung der "natürlichen" Ordnung der vergangenen Jahrzehnte zu: eine relative Stimmenmehrheit, die sich einer komfortablen (rechts-)konservativen Koalitionsmehrheit gegenübersieht. Ihre an Starrsinn grenzende Koalitionsblindheit taugt zum Bumerang. (David M. Wineroither, 5.10.2018)