Egon Schieles Gemälde "Dämmernde Stadt" (1913) soll bei Sotheby’s bis zu 18 Millionen Dollar einspielen. Der Erlös wird unter den Erben nach Elsa Koditschek und Viktor Fogarassy aufgeteilt. Die auch "Kleine Stadt II" benannte Stadtansicht ist das Gegenstück zu "Kleine Stadt III" im Bestand des Leopold Museums.

Foto: Sotheby's

Aus dem Fotoalbum der Familie: Siegfried Koditschek, der 1925 verstarb, und seine Frau Elsa, die in der NS-Zeit in Wien nur knapp der Deportation entging. Ihre Mieterin verkaufte den Schiele.

Foto: Courtesy Koditschek Family

Das vom Architekten Theodor Schreier für die Familie Koditschek in Wien Hietzing 1911 erbaute Haus. Im Vordergrund der damalige Familienhund. Die Koditscheks waren Hundeliebhaber. Als sich Elsa ab Herbst 1941 versteckte, musste sie ihre Lieblinge Mitsu und Kira ihrer Mieterin überlassen. Denn an Spaziergänge oder Gassirunden war nicht zu denken. Ein endgültiges, wenngleich heimliches Wiedersehen gab es erst im Sommer 1943. Zu diesem Zeitpunkt waren der Architekt des Hauses und seine Ehefrau bereits im KZ Theresienstadt umgekommen.

Foto: Courtesy Koditschek Family

Die kleine, von Efeu bewucherte Villa der Koditscheks im Jahr 1934. Im Sommer 1940 musste Elsa Koditschek das Erdgeschoß räumen, im Obergeschoß wohnte Sylvia Kosminski, die später das Schiele-Gemälde verkaufen sollte. Elsas ehemalige Wohnung wurde von SS-Scharführer Herbert Gerbing, ein Mitarbeiter Adolf Eichmanns, und seiner Ehefrau bezogen, die dort bis Kriegsende wohnhaft blieben.

Foto: Courtesy Koditschek Family

Am 12. November gelangt bei Sotheby's in New York ein Gemälde von Egon Schiele zur Auktion, das wenigstens zwölf, wenn nicht 18 Millionen Dollar einspielen soll: Dämmernde Stadt von 1913, auch Die kleine Stadt II genannt, das bis vor wenigen Wochen in einer steirischen Privatsammlung beheimatet war. Dem STANDARD exklusiv vorliegenden Informationen zufolge liegt dem Verkauf eine Privatrestitution zugrunde.

Eine kleine Sensation. Denn das österreichische Kunstrückgabegesetz ist auf Privatbesitz nicht anwendbar, weshalb Einigungen unter Familien die große Ausnahme sind. Seit 1998 wurden zwei öffentlich bekannt. Die nunmehr dritte ist nicht Verhandlungen von Rechtsanwälten gedankt. Vielmehr vermittelte das Auktionshaus zwischen den beiden Familien. "Neben Verständnis bedarf es der Bereitschaft, einem Problem eine positive Wendung zu geben", erklärt Andrea Jungmann, Sotheby's-Chefin Österreich. Das benötigt Zeit, oft Jahre. Die Rückgabe, Versteigerung und anschließende Aufteilung des Erlöses unter den Familien stehen am Ende vieler Etappen.

Knapp der Deportation entgangen

Dieser Fall birgt eine Besonderheit: Die Nachfahren der ehemaligen jüdischen Besitzerin leben in den USA. Der Zweite Weltkrieg war in der Familie nur am Rande thematisiert worden. Dass ihre Ahnin die NS-Zeit in Wien als U-Boot überlebte und nur knapp der Deportation und Ermordung entging, war ihnen unbekannt. Dabei harrten die Dokumente in Form unzähliger Briefe und Fotografien der Entdeckung. Verwahrt in zehn Kartons, die ihr 1974 verstorbener Sohn hinterließ. Seine Kinder und Enkelkinder beherrschen kein Deutsch. Es waren Andrea Jungmann und ihr Kollege Lucian Simmons (Direktor Restitution-Department), die den Angehörigen dieses Kapitel ihrer Familiengeschichte schrittweise offenbarten.

Sie beginnt in Wien-Hietzing, wo Siegfried Koditschek, Mitarbeiter der Credit-Anstalt, den Architekten Theodor Schreier mit dem Bau einer kleinen Villa beauftragt. 1911 beziehen Siegfried, seine Frau Elsa samt Schwiegermutter ihr neues Refugium, im gleichen Jahr kommt Sohn Paul auf die Welt, zwei Jahre später Tochter Hedy. Im August 1925 stirbt Vater Siegfried im Alter von nur 48 Jahren.

Aus den nachfolgenden Jahren ist nur wenig überliefert. Gesichert ist, dass sich Elsa für Kunst interessiert. Im Herbst 1928 besucht sie die vom Hagenbund anlässlich des zehnten Todestages von Schiele veranstaltete Gedächtnisausstellung. Die Dämmernde Stadt begeistert sie, und sie erwirbt das Gemälde, das noch im Juni 1939 über dem Klavier im Speisezimmer hängen wird.

Ein SS-Scharführer zieht ein

Paul, mittlerweile Anwalt, war bereits in die USA geflüchtet, Tochter Hedy in die Schweiz. Elsa blieb in Wien, auch weil sie ihrer 84-jährigen Mutter eine Flucht nicht zumuten wollte. Die Vermietung einzelner Zimmer deckt kaum die Kosten für Lebensmittel.

Zwölf Monate später verschärfte sich die Situation massiv. Auf amtliche Anordnung muss sie ihre Wohnung im Untergeschoß räumen. Ihr bleibt ein Kabinett bei ihrer Mieterin Sylvia Kosminski. Ein winziger Raum, weshalb ihre Mutter in das Altersheim der IKG muss. Dort stirbt sie unter ungeklärten Umständen zehn Tage später.

Derweilen bezieht ein SS-Scharführer Elsas ehemaliges Refugium: Herbert Gerbing, seit den frühen 1930er-Jahren in der NSDAP aktiv und Mitarbeiter Adolf Eichmanns in der für die Deportationen zuständigen Zentralstelle für jüdische Auswanderung. Sofern Gerbing Fragen an seine "Vermieterin" hatte, beorderte er sie in die Zentralstelle. Im Oktober 1941 bekommt sie die Aufforderung zur "Übersiedlung" nach Litzmannstadt (Lódz). Elsa ersucht Gerbing um Aufschub, er lehnt ab und schildert das künftige Leben im Ghetto in den rosigsten Tönen. Sie zweifelt, Bekannte raten ihr unterzutauchen.

Flucht in letzter Minute

Sie findet bei einer Freundin Unterschlupf. Kommt Besuch, verschanzt sie sich stundenlang zwischen einem Kasten und einer Kleidertruhe. Bis auf wenige Male und nur in den frühen Morgenstunden wird sie die Wohnung in den nächsten eineinhalb Jahren nicht verlassen. Bis sie verraten wird. Bei der Hausdurchsuchung am 25. Juni 1943 flüchtet sie in letzter Minute durch die offene Eingangstür. Ihre Freundin wird verhaftet und in das KZ Ravensbrück überstellt. Sie wird überleben. Elsa auch, wenngleich unter schwierigen Bedingungen.

Die Polizei sucht intensiv, kann sie aber nicht finden. Auf die Idee, dass sie sich wieder und trotz der Anwesenheit der Familie Gerbing in ihrem eigenen Haus versteckt, kommt man nicht. "Tante Sylvia" sei Dank. Wobei, sie hat den Schiele und andere Wertgegenstände ungefragt verkauft. An wen, weiß man nicht. Elsa Koditschek überlebt, auch den Bombenhagel über Wien. Nach dem Krieg zieht sie zu ihrer Tochter in die Schweiz, wo sie 1961 stirbt.

Im September 1950 gelangt das Gemälde im Dorotheum zur Auktion und wird von einem bekannten Schiele-Sammler ersteigert: Viktor Fogarassy, Ehemann einer Enkeltochter des Mitbegründers des Kaufhauses Kastner & Öhler. Nach dessen Tod verblieb es in Familienbesitz. Die jüngere Generation trennt sich jetzt von diesem Kunstwerk: nicht weil sie musste, sondern weil sie wollte.

Kommentieren will die Familie ihre Entscheidung nicht. Vom Schatten seiner Vergangenheit befreit, soll sich am Anblick der Dämmernden Stadt nun ein neuer Besitzer erfreuen dürfen. (Olga Kronsteiner, 5.10.2018)