Kern am Samstag während seiner Rede in der SPÖ-Zentrale.

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Immer, wenn die türkis-blaue Koalition beginnt, in Schwierigkeiten zu geraten, findet Christian Kern, dass es der richtige Zeitpunkt ist, um die SPÖ in schwere Turbulenzen zu stürzen. Das war vor einigen Wochen so, als er überfallsartig seinen Rücktritt und seine EU-Kandidatur bekanntgab. Jetzt ist die FPÖ wegen Kickl in der Defensive und Kern springt ganz ab. Zum Schluss habe er sich "total verselbstständigt" sagt ein erfahrener SPÖ-naher Politstratege über den Christian Kern der letzten Wochen.

Video: Kern tritt ab.
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Die versuchsweise Rekonstruktion ergibt folgendes Bild: die SPÖ – und zwar Freund und Feind von Kern – waren terminal verärgert über seinen völlig überraschenden Rücktritt als Parteivorsitzender und seine Selbsternennung zum Spitzenkandidaten für die EU-Wahl; sehr bald begann man den wohlgesinnten Boulevardzeitungen zu stecken, Kern werde vielleicht auch hier im letzten Moment abspringen, Schieder könne übernehmen. Gleichzeitig sondierte Kern offenbar, ob er mit einer eigenen Liste für die EU-Wahl kandidieren könne – sozusagen unter dem Schirm einer europäischen Initiative, die von Emmanuel Macron (und/oder dem italienischen Ex-Premier Renzi) begründet würde.

Rechte Kräfte bekämpfen

Diese Überlegungen fanden auch irgendwie ihren Weg in die Samstag-Krone (print-Ausgabe). Unklar ist, ob das eine Initiative ganz außerhalb der SPÖ gewesen wäre (mit Unterstützung durch liberale Unternehmer) oder doch irgendwie mit dem Segen der SPÖ: jedenfalls ein Versuch, linke, liberale, grüne und Neos-Wähler zu sammeln. Bei seiner Abdankungspressekonferenz wies er die SPÖ noch einmal auf diese Notwendigkeit hin, um die rechten "Kräfte um Salvini, Orban, Strache, die Europa zerstören wollen" zu bekämpfen.

Das hat ihm die SPÖ offenbar abgedreht, auch wegen der Möglichkeit, dass er mitten im EU-Wahlkampf hinwirft. Wobei aber auch die inzwischen mehrfach bestätigte Selbsterkenntnis eine Rolle gespielt haben dürfte, "dass ich kein Berufspolitiker bin".

Kern konnte allerdings jetzt für sich in Anspruch nehmen, seine Nachfolge in seinem Sinn geregelt zu haben. Pamela Rendi-Wagner hat er der SPÖ erfolgreich aufs Auge gedrückt, gegen den Widerstand der traditionellen Fraktion , als deren Sprecher der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig gilt. Kann es sein, dass Kern auch von Rendi zuletzt als Belastung empfunden wurde ? "Weil ich nicht Christian Kern bin", antwortete sie auf die Frage, warum man ihr glauben soll, dass sie bei der nächsten Wahl noch Parteichefin sein wird.

Frau an der Spitze

Rendi-Wagner sei keine Kandidatin, die die zur FPÖ abgewanderten Arbeiter wieder zur SPÖ zurückbringen wird, heißt es. Tatsächlich ist sie eine urbane, gebildete, liberale Frau. So wie die erfolgreichsten SPÖ-Kanzler der letzten Jahrzehnte urban, gebildet und liberal waren: Kreisky ein klassischer Bildungs(Groß-)Bürger in Maßanzug und Maßschuhen, Vranitzky ein wirtschaftsaffiner Banker. Sie wäre die erste Frau.

Die Frage ist, ob die Arbeiter in nennenswerter Zahl überhaupt von der FPÖ zurückgeholt werden können. Eine Frage, die Christian Kern schon länger im kleinen Kreis stellte.Eine große Zahl von Arbeitern darf nicht wählen, weil sie ausländische Staatsbürgern sind. Eine große Zahl von Arbeitern sind zu Kleinbürgern geworden, die Angst haben das Erreichte – soziale Sicherheit, Arbeitsplätze – an "die Ausländer" zu verlieren. Jüngere Arbeiter haben, wenn sie wählen, überhaupt noch nie etwas anderes als FPÖ gewählt. Bei der Wahl 2017 wählten von den Arbeitern , die zur Wahl gingen , 59 (!) Prozent die FPÖ, nur 19 Prozent die SPÖ. Die einzige Chance für die SPÖ liegt darin, dass die Arbeiter es der FPÖ übel nehmen, dass sie den Maßnahmen der ÖVP – 12-Stunden-Tag, Zerschlagung der Sozialversicherungen – zustimmt.

Bildungsschicht wächst

Gleichzeitig wächst – unter anderem durch die sozialdemokratische Bildungspolitik der letzten Jahrzehnte – die Bildungsschicht, bzw. jene derer, die sozusagen zwangsläufig kleine Selbstständige werden müssen.

Hier eine Linie zu finden, die die Arbeiter trotz allem nicht aufgibt, aber gleichzeitig auch auf die wachsende Bildungsschicht setzt, wird die Aufgabe von Rendi-Wagner sein. Sie wird dazu ihr Team um einige Kaliber erweitern müssen . Denn eines der Probleme des abgetretenen Christian Kern war, dass er sich immer als Solotänzer gesehen hat. (Hans Rauscher, 6.10.2018)