Troja liegt in Schutt und Asche: "Dionysos Stadt" mit Nils Kahnwald und Maja Beckmann.

Foto: Julian Baumann

München – Ein Theaterfest wie die antiken Dionysien zu ursprünglichen Bedingungen heute aufzuführen ist schlicht unmöglich. Man kann sich an die Idee aber herantasten. Christopher Rüping tut das in einer zehnstündigen Inszenierung an den Münchner Kammerspielen. Sie fordert das Stadttheatersystem ganz schön heraus. Mehr als zwei Spieltermine pro Monat sind nicht drin.

Rüping, 1985 in Hannover geboren, tritt stets mit kräftiger Regiehand an. Gleich zweimal hintereinander wurde er dafür von Kritikern zum "Nachwuchsregisseur des Jahres" gewählt. Dreimal war er bereits zum Berliner Theatertreffen eingeladen, zuletzt im vergangenen Mai mit Trommeln in der Nacht, einer Tandem-Inszenierung (das heißt, es gibt sie in zwei Varianten, einmal "von" und einmal "nach" Bertolt Brecht).

Zehn Stunden, vier Stücke

Dionysos Stadt ist nun ebenfalls dazu angetan, das auf Spielplänen übliche Format zu sprengen. Anberaumt sind – dem antiken Modell nachempfunden – drei Tragödien und ein Satyrspiel (13 bis 23 Uhr). Wein, so macht es Schauspieler Nils Kahnwald in seinem zentralen, herzzerreißenden Prolog klar, könne hier allerdings nicht kostenfrei konsumiert werden. Auch werde das Publikum nicht, wie es den Athener Bürgerinnen und Bürgern zustand, für den durch den Theaterbesuch verursachten Dienstentgang finanziell entschädigt.

Auch sonst verläuft zwischen Pausen-DJ und Essensbus alles so geordnet, wie das bei ähnlich großen "Abenden" der Jetztzeit der Fall war, etwa dem Zwölf-Stunden-Faust von Peter Stein oder Luk Percevals Shakespeare-Schlachten!. Selbst das Rauchen wird bei einem dionysischen Event anno 2018 mit der Ampel geregelt (grün: Das Publikum darf die Bühne erklimmen und sich eine anzünden).

Den Mythos erden

Nichts Geringeres will Rüping mit Dionysos Stadt als uns Menschen neue Demut lehren – veranschaulicht an jenem blutigen Menschheitsepos, das er vom Feuerbringer Prometheus herauf über den Trojanischen Krieg und den Rachekreislauf der Orestie bis zur Rechtsprechung nacherzählt.

Er lässt diesem Epos eine auf Kothurnen vollführte sportliche Meditation als Satyrspiel folgen, eine Meditation über den denkwürdigen Kopfstoß Zinédine Zidanes beim WM-Finale anno 2006: der melancholische Abgang eines Jahrhundertfußballers, das Theater- im Sportstadion gespiegelt.

Griechischer Wein!

Rüping ist an einer publikumsfreundlichen Übersetzung in die Gegenwart gelegen. Er will mythologische Momente "erden", etwa jene 3000 Jahre veranschaulichen, die Prometheus zur Strafe am kaukasischen Felsen gekettet hängt, und lässt dafür an Ort und Stelle Schafe (Schauspieler mit übergeworfenen Fellen) blöken und von Zeit zu Zeit gelangweilt kopulieren. Die Orestie wiederum inszeniert Rüping als Impro-Sitcom mit viel Musik (Griechischer Wein!).

In alldem steckt mindestens genauso viel dramaturgische Raffinesse wie inszenatorische. Mehr noch aber als Deutungsideen überwog an diesem Abend das Gemeinschaftsgefühl einer wohlmeinenden Zuhörerschaft. (Margarete Affenzeller, 7. 10. 2018)