Gehen oder bleiben: Einen Meter vor ihrer Geschäftstür blicken Händler bald in ein tiefes Bohrloch. Vielen Jungunternehmern zieht das auch finanziell den Boden unter den Füßen weg.

Andy Urban

"Hier geht es bald 40 Meter in die Tiefe." Vivien Sakura Brandl sitzt vor ihrem Geschäft und zieht eine Schrittlänge vor ihrem Sessel eine imaginäre Linie über den Gehsteig. "Ich lebe in einer Stadt, die wachsen muss. Ich will, dass neue U-Bahnen gebaut werden. Ich will so viele Öffis wie möglich", sagt die junge Designerin und blinzelt in die Sonne. "Dass mich die Baustelle jetzt selbst trifft, ist ein Riesenpech."

Gut elf Jahre ist es her, dass sich Sakura Brandl in der Wiener Kirchengasse selbstständig machte. Den Job in einer japanischen Bank gab sie auf und startete stattdessen in einer früheren Buchhandlung ihre eigenes Modelabel Sightline. Ihr hipper Laden ist eine Schnittstelle zwischen Kunst und Mode. Ab 2019 steht er vor dem Abgrund.

Neuer Knotenpunkt

Ihr Grätzel wird ein neuer Verkehrsknotenpunkt. Die Linien U2 und U3 treffen sich hier unter der Oberfläche des belebten Handelsviertels. Die tiefste U-Bahn-Station Wiens entsteht – jene Haltestelle mit der wohl zweitstärksten Frequenz der Stadt. Nur auf dem Stephansplatz sollen sich mehr Fahrgäste tummeln. Doch bis es so weit ist, vergehen im besten Fall acht Jahre. Bis dahin herrschen Schutt, Staub und Baulärm vor.

Sakura Brandl will den Mietvertrag behalten und bis März an Ort und Stelle ausharren. Sobald sich aber das Riesenloch vor ihren Füßen auftut, müsse sie sich für einige Jahre anderswo niederlassen. "Viele von uns werden nicht bleiben können. Ich hoffe, die Substanz hält das aus." Ihr Blick auf die Häuserfassade ist sorgenvoll.

Schnepf gehört in der Wiener Kirchengasse fast schon zum Inventar. Seit 1890 hält der kleine Betrieb mit Berufskleidung hier die Stellung.

"Wir sind wie Lemminge, die auf einen Abgrund zugehen, ohne zu wissen, ob dieser einen Meter oder hundert Meter tief ist." Beate Klein klopft zart auf die dünnen, denkmalgeschützten Glasscheiben ihres Geschäfts. Einst beobachteten Näherinnen von hier aus die Szenerie in Kirchengasse und Lindengasse. Nun inspizieren in der früheren Werkstätte Kunden edle dänische Gitterbetten, skandinavische Hochstühle und belgische Tragetücher. Biologische Babybekleidung kokettiert mit handverlesenen hölzernem Spielzeug.

Klein und ihr Mann eröffneten an der Kreuzung vor zwölf Jahren auf 600 Quadratmetern ihren eigenen Kinder Concept Store. "Unser ganzes Herzblut, alles, was wir haben, steckt hier drin. Der Standort war eine glückliche Fügung", sagt Klein. Nun stehe er vor einer harten Belastungsprobe.

"Aus dem Sumpf gezogen"

Raus aus der Riesenbaustelle in ruhigere Gefilde zu übersiedeln ist für sie keine Option. Dafür seien "Herr und Frau Klein" schlichtweg zu groß. Mit einem zweiten Standort die Flucht nach vorne anzutreten, ist wiederum riskant. "Wir sind ein Familienbetrieb, wir haben kein Spielgeld oder Investoren im Rücken, wir dürfen unser Mutterschiff nicht gefährden."

20 Mitarbeiter mitsamt ihrer Familien hängen am Gedeih des jungen Unternehmens. Und der Kunde wolle Beratung, nicht selten verbringe einer mehrere Stunden im Geschäft. "Ich kann nicht einfach auf die Hälfte meiner Leute verzichten."

Am eigenen Schopf hat sich das Viertel rund um die Kirchengasse in den vergangenen 15 Jahren aus dem Sumpf gezogen, ist ihr Mann Stephan Klein überzeugt. "Leute ließen Bürojobs sausen, machten sich selbstständig, schufen Jobs." Ohne Zuschuss-Orgien und Städteplanung hätten Dutzende Kleinunternehmer eine Eigendynamik entwickelt, wie sie auch in Städten wie Berlin und London zu finden sei. "Doch diese Entwicklung wird nun im schlimmsten Fall um Jahre zurückgedreht."

Herr und Frau Klein zählen zur jungen Garde an Einzelkämpfern, die Leben in die Straße gebracht haben.

Elisabeth Schnepf kann sich gut daran erinnern, als es in der Kirchengasse alles zu kaufen gab, was es zum Leben brauchte, von Milch über Fleisch bis hin zu Möbeln. Dann verfiel die Straße in Lethargie. Alteingesessene Händler gaben auf, Geschäfte verwahrlosten. Bis ihr junge Designer und Gastronomen neues Leben einhauchten.

"Es hat sich schon sehr gemausert, unser Grätzel", sagt Schnepf und lächelt. Seit 1890 hält ihr Geschäft für Berufsbekleidung in der Kirchengasse die Stellung. Sie selbst bedient hier seit 40 Jahren mit ihrem Sohn als eine der Letzten der Zunft die Stammkunden.

Sie hätte es gern ein bisserl moderner, räumt sie ein und streicht fast entschuldigend über das braune Mobiliar der 60-er Jahre. "Aber den meisten Leuten gefällt es."

Schritt ins Internet

Vor ihrer Geschäftstür sind die Aufzüge der neuen U-Bahn-Station geplant. "Wenn alles fertig ist, wird es sicher wunderbar. Bis dahin muss es uns weitergeben. Wie auch immer wir das schaffen werden." Vielleicht, sinniert sie, werde sie einmal mit einem Shop ins Internet gehen. Sie selbst habe auf jeden Fall schon andere schwere Zeiten erlebt. "Wir können es nicht ändern und werden das Beste draus machen."

Schnepfs Nachbarin ist Barbara Sickenberg. Das Geschirrgeschäft Niessner ihrer Familie blickt auf eine 166 Jahre lange Geschichte in der Kirchengasse zurück. Marken wie Arzberg, Riedel und Riess findet man bei ihr – und in der Auslage den pechschwarzen Kater Ramses, den eigentlichen Chef des Betriebs, wie sie bekennt. Sie selbst sei ja praktisch im Geschäft aufgewachsen, "ich hab' mit zehn schon gewusst, wo was ist. Und bei meinen Häferln bin ich bis heute geblieben."

"Keine Geisterstraße"

Auch Niessner ist fest dazu entschlossen, nach dem Baustart im Mai zu bleiben. "Es wird für viele eine Durststrecke, aber so ein Riesenprojekt lässt sich halt nicht von Freitagabends bis Montagfrüh realisieren." Sie werde wie andere Händler dafür kämpfen, dass das Viertel hier während der Bauphase nicht zu einer Geisterstraße mutiere.

Lilly Egger schräg vis-à-vis ist die Jüngste im Viertel. Vor knapp einem Jahr wurde sie nach einem Nomadenleben mit Pop-up-Stores hier sesshaft. Sie bereue es nicht, mit "Kitsch Bitch" hierher gezogen zu sein, betont sie. Bewusst, wie heftig das alles werde, sei es ihr aber erst jetzt geworden. "Ich muss realistisch sein: Was hier bald abgehen wird, ist für Kunden und Mitarbeiter auf Dauer nicht zumutbar."

Niessner blickt in der Kirchengasse auf eine 166 Jahre lange Geschichte zurück.

Sie überlegt – wie die Burschen der Zapateria nebenan – Alternativen. Sorge um ihre Zukunft hat sie keine. "Ich habe gelernt, innerhalb kurzer Zeit was Cooles, Neues aufzubauen und meine Kunden darüber online zu informieren."

Augen zu und durch spielt es nicht, meint Schuhspezialist Daniel Rüp, der sich im Zuge des U-Bahn-Baus auf 40 Prozent weniger Umsatz einstellt. "Und wer sagt, dass hier in zehn Jahren alles besser ist?" Die Handelslandschaft ändere sich rasant.

Eine Baustelle über acht Jahre direkt vor ihrer Tür finanziell aussitzen kann auch Alexandra Stadler nicht, die sich mit Fabric Experiments und exklusiven Strickwaren in der Lindengasse gut etablierte. "Bei einem kleinen Geschäft mit eigenem Label geht es an die Existenz, auch wenn keiner sofort aufgeben wird." Stadler erwägt, stärker auf Messen zu verkaufen, das kleine Lokal in der Stadt nur noch als Arbeitsatelier zu nutzen.

Kein Rettungspaket

Viele ihrer Nachbarn sind bereits weg, etliche wechseln in die nahe Westbahnstraße. Aufhalten werden sie auch Gelder der Wirtschaftskammer und der Stadt Wien nicht: Rund 800.000 Euro jährlich sind an Unterstützung für Mieten und Investitionen in Summe vorgesehen. "Es ist ein großes Paket, wird aber keinen über die vielen Jahre retten", resümiert Rainer Trefelik, Obmann des Wiener Handels. "Da gibt es nichts zu beschönigen." Er ist überzeugt vom Zusammenhalt der Händler im Bezirk, der sich so lebendig entwickelt habe, "es wird dennoch eine enorme Herausforderung."

Offen ist freilich, wie sich das Grätzel nach 2024 entwickelt. Händler wie Astrid Fabrizio De Montis, die das Fachgeschäft Interni Toscani führt und zu jenen zählt, die bleiben werden, hoffen auf zukunftsweisende Projekte, auf Avantgardistisches, auf mehr Begrünung. "Wenn wir schon alle so lang leiden müssen, dann soll es später der geilste Stadtteil Wiens werden."

Zusätzliche Einnahmequellen

Fabrizio De Montis lebt und arbeitet mit ihrer Familie seit 22 Jahren im Viertel. Sie lasse das Ganze nun möglichst gelassen auf sich zukommen, sagt sie, "es uns soll uns im Leben nichts Schlimmeres passieren als eine neue U-Bahn." Sie bemühe sich aber um zusätzliche Einnahmequellen, etwa in Form einer Handelsagentur. "Die Baustelle ist wie ein Feind, den man nicht kennt und daher nicht weiß, wie man ihn bekämpft."

Messerschleifer Musick bekommt die Riesenbaustelle zum 100-Jahr-Jubiläum vor die Geschäftstür.

Andere wie Martina Pühringer, die in der Lindengasse in vierter Generation unter dem Namen Musick Messer schleift und verkauft, fürchten das Ende vieler Einzelkämpfer. "Für junge Händler etwa werden die Mieten hier später kaum mehr leistbar sein." Sie selbst sei derzeit hin und her gerissen, werde aber ausharren, zumal sich eine Werkstatt wie die ihre nicht so einfach in einen Wäschekorb packen und übersiedeln lasse. "Wir bekommen die Baustelle zu unserem 100-Jahr-Jubiläum vor die Tür."

Hoffen auf Fußgängerzone

Durchtauchen wollen auch die Gastronomen Alain Asso und Daniel Figar. Assos "Le Troquet" plant, mit einer kleineren Mannschaft künftig nur noch abends zu öffnen. Figar, der mittlerweile sieben Lokale in Wien betreibt, gibt sich ebenso als Optimist. "Klar wird es Umsatzeinbußen geben, aber wir passen unser Konzept an." Er hofft auf die Fußgängerzone, die es nach Eröffnung der neuen U-Bahn-Station geben könnte.

"Alle hier haben diesen Mix an Betrieben und Kunden bewusst gesucht, sie lassen sich nicht so einfach verpflanzen", sagt Margit Johannik, Chefin des Telekombetriebs Sontech in der Kirchengasse. Sie habe viel in den Standort investiert und mache sich in ihrem Alter keine Illusionen über ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Keiner wisse, was in diesem Loch letztlich alles verschwinde, "aber ich werde alles dafür geben, dass mir diese Baustelle nicht den Boden unter den Füßen wegzieht". (Verena Kainrath, 9.10.2018)