Der völlige Rückzug Christian Kerns hat Andreas Schieder am Sonntag zu einem überraschenden Karrieresprung verholfen. Die SPÖ will mit ihm als Spitzenkandidaten in die EU-Wahl im Mai 2019 gehen.

STANDARD: Hätten Sie vor einer Woche auch nur einen Euro gewettet, dass Sie Spitzenkandidat Ihrer Partei bei der EU-Wahl werden?

Schieder: Abgesehen davon, dass ich selten wette, muss ich Ihnen recht geben: Die letzten Wochen waren eine politische Achterbahnfahrt für die SPÖ. Das muss man nicht schönreden. Aber Pamela Rendi-Wagner hat jetzt einen Schlussstrich unter diese turbulenten Wochen gezogen.

"Die letzten Wochen waren eine politische Achterbahnfahrt für die SPÖ", räumt Andreas Schieder ein.
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STANDARD: Wie fühlt es sich an, nur zum Zug gekommen zu sein, weil ein anderer hingeschmissen hat?

Schieder: Ich bin Vollblutparlamentarier. Die entscheidenden Fragen für die Zukunft unserer Gesellschaft werden nicht nur hier in Wien, sondern auch in Europa entschieden. Da geht es um den sozialen Zusammenhalt, um faire Antworten auf den Klimawandel, um die globalen Bedrohungen, um nur einige zu nennen. Es war keine leichte Entscheidung für mich, die Rahmenbedingungen waren nicht ideal. Aber ich finde die Aufgabe spannend, und daher habe ich mich bereiterklärt, es zu machen.

STANDARD: Sie sind schon lange in der Politik. Muss man eine dicke Haut haben, um im Intrigenspiel, von dem Kern gesprochen hat, reüssieren zu können?

Schieder: Erstens: Politik ist kein reines Intrigenspiel. Es geht um Inhalte, die müssen im Vordergrund stehen. Man muss auch nicht bei jeder Intrige mitmachen. Aber natürlich braucht man eine dicke Haut. Das darf aber nicht heißen, dass man zu einer Maschine wird. Politiker zu sein heißt, Mensch zu sein, mit allen Gefühlen. Manchmal ärgert man sich, manchmal kränkt man sich, manchmal freut man sich. Nur wenn man eine ausgeglichene Persönlichkeit ist, kann man auch brennen für das Projekt Politik. Und jedenfalls braucht man einen langen Atem.

STANDARD: Es wird jetzt sicher auch viele geben, die hintenherum erzählen, der Schieder sei kein Siegertyp. In Wien haben Sie gegen Michael Ludwig verloren, als Klubobmann wollte Sie die neue Parteichefin nicht. Wie geht man mit einer solchen Situation um?

Schieder: Wenn man in die Politik geht, muss einem klar sein, dass es nicht nur stetig aufwärtsgeht. Man kann nicht immer ganz oben oder ganz vorn stehen. Solche Eitelkeiten sollte man sich schnell abgewöhnen, sonst ist man in der Politik fehl am Platz.

"Ich bin Vollblutparlamentarier", sagt Andreas Schieder und begründet damit, warum es ihn nicht stört, nur die zweite Wahl gewesen zu sein.
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STANDARD: In der Politik geht es auch um Glaubwürdigkeit. Hat Christian Kern mit der Art und Weise, wie er abgetreten ist, nachhaltigen Schaden angerichtet?

Schieder: Es waren sicherlich keine Wochen, die die Glaubwürdigkeit und das Verständnis für Politik gestärkt haben. Einen nachhaltigen Schaden sehe ich aber nicht. Es wird an uns liegen, zu zeigen, worum es uns geht. Nämlich um Antworten auf steigende Mietpreise, die Verteilungsfrage, die Lohnschere, die immer weiter aufgeht, um ein Bildungssystem, das die Zukunft unserer Kinder sichern soll. Gerade erst haben 900.000 Menschen für ein Rauchverbot unterschrieben, fast 500.000 haben das Frauenvolksbegehren unterstützt. Das sind auch Dinge, für die Pamela Rendi-Wagner ganz besonders steht.

STANDARD: Trotzdem wird die Stimmung in der SPÖ ziemlich am Boden sein. Wie richtet man die Funktionäre wieder auf? Sie sind schließlich auch davon abhängig, dass die Partei im Wahlkampf für Sie rennt.

Schieder: Schritt eins: einen Schlussstrich ziehen. Schritt zwei: Rasche Entscheidungen treffen, das hat Rendi-Wagner getan. Jetzt geht es darum zu zeigen, warum es die Sozialdemokratie braucht. Wir können nicht hinnehmen, dass die schwarz-blaue Regierung scheibchenweise die Grenzen des politischen Anstands verschiebt – egal ob es um die Medienfreiheit, um den Missbrauch des Verfassungsschutzes oder den Vorschlag der Regierung geht, bei Großprojekten jede Form von Mitbestimmung von Anrainern und Bürgerinitiativen zu kübeln. Oder am Beispiel der Krankenkassenreform: Es geht dabei in Wirklichkeit nicht ums Sparen im System, sondern um das Infragestellen der sozialen Sicherheit und der Krankenversicherung.

"Politik ist kein reines Intrigenspiel", ist der von Pamela Rendi-Wagner abgelöste Klubobmann überzeugt.
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STANDARD: Jetzt sind wir schon mitten im Wahlkampf. Wäre es für die SPÖ nicht sinnvoll gewesen, wie Kern das wollte, Allianzen oder sogar ein formelles Wahlbündnis einzugehen? Etwa mit Liberalen, Grünen oder Emmanuel Macron und Alexis Tsipras?

Schieder: Erstens, das EU-Wahlrecht sieht vor, dass in jedem Land eigene Listen antreten. In Österreich ein Bündnis mit Macron zu bilden wäre schwierig, weil er Franzose ist und ...

STANDARD: Schon klar, aber man könnte sich mit Neos oder Grünen verbünden und informelle Allianzen mit Gruppen aus anderen Ländern bilden.

Schieder: Die Idee ist an sich richtig, kommt aber zum falschen Zeitpunkt. Es wird nach der Wahl darum gehen, in vielen Sachfragen zu kooperieren. Abgesehen davon sehe ich uns durchaus als Sprachrohr für weit über die SPÖ hinausgehende Interessen. Die Kandidatur der Sozialdemokratie ist auch ein Angebot an Sozial- und Umweltinitiativen in diesem Land. Das wird sich auch auf unserer Wahlliste widerspiegeln.

STANDARD: Umweltinitiativen werden aber wohl nicht bei der SPÖ andocken.

Schieder: Aber viele Menschen, die sich für diese Themen interessieren und sagen: Wir können nicht mehr zuschauen, wie beim Klimawandel in die falsche Richtung gearbeitet wird.

STANDARD: Sie sind nicht so dick mit Macron, wie Kern es war, oder? Immerhin hat Macron in Frankreich die dortigen Sozialdemokraten mehr oder weniger zerstört.

Schieder: Präsident Macron ist ein Produkt einer ganz spezifischen Situation in Frankreich. Er ist schwer einordenbar. Ist er ein Liberaler, ein Sozialdemokrat? Es gibt viele Punkte in seiner Politik, die ich richtig finde. Aber mindestens genauso viele, die ich nicht teile oder für falsch halte, etwa seine Arbeitsmarktpolitik oder die Rücknahme der Vermögenssteuer. Daher ist er ein Bündnispartner in einzelnen Frage, aber kein Politiker, bei dem ich sage: Der entwickelt alles in die richtige Richtung. Aber wenn Sie so wollen: Teilt man Europa in zwei Lager ein, dann stehen auf der einen Seite die Salvinis, Le Pens, Orbáns und Straches, die weniger Zusammenhalt wollen. Und auf der anderen Seite jene, die für mehr Zusammenhalt stehen. Dazu gehören die Sozialdemokraten, aber auch Macron oder die deutsche Kanzlerin Merkel.

"Wir können nicht hinnehmen, dass die schwarz-blaue Regierung scheibchenweise die Grenzen des politischen Anstands verschiebt", lautet eines der zentralen Themen der SPÖ.
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STANDARD: Kern hatte offenbar einen ganz klassischen Lagerwahlkampf gegen die erwähnten Rechtspopulisten geplant. Ist das auch Ihr Zugang?

Schieder: Vordergründig ist das eine politische Frage. Es geht nicht darum, wer gut und wer böse ist, sondern darum, wer den sozialen Zusammenhalt zerstört und wer ihn fördert. Und da kommen wir drauf, dass es den Salvinis, Orbáns und Straches um die Zerstörung geht. Das ist das Gegensatzpaar.

STANDARD: Genau diese Linie fährt aber auch der wahrscheinliche ÖVP-Kandidat Othmar Karas. Bei EU-kritischen Wählern hat die FPÖ ein Alleinstellungsmerkmal, oder werden Sie auch versuchen, diese Wähler anzusprechen?

Schieder: Es geht im Europawahlkampf nicht nur um die Frage: Bist du für oder gegen Europa? Das ist zu wenig. Ich halte Europa für die größte zivilisatorische Errungenschaft. Die müssen wir bewahren, indem wir sie weiterentwickeln und die Fragen unserer Zeit beantworten. Da müssen wir bei der ÖVP, abseits einzelner Personen, schauen, für welche Politik sie in Europa steht. Wenn wir das tun, zeigt sich, dass sie in Europa die gleiche schlechte Politik macht wie in Österreich. Eine Politik, die Steuerschlupflöcher ganz bewusst offen lässt. Da schließt sich der Kreis zur Innenpolitik. Die Spender von Sebastian Kurz waren genau jene, die gesagt haben: Wir geben dir ein paar Hunderttausend Euro und bekommen dafür Steuerschlupflöcher und den Zwölfstundentag.

STANDARD: Apropos Wahlkampffinanzierung: Steht die? Nach der Nationalratswahl sind die Parteikassen ja nicht gerade üppig gefüllt.

Schieder: Natürlich braucht es Geld. Ein Wahlkampf ist aber vor allem über Motivation zu gewinnen. Lieber weniger Budget und mehr Begeisterung als umgekehrt. (Günther Oswald, 10.10.2018)