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Die Gesellschaft driftet auseinander. Menschen ziehen sich im Internet zunehmend in Infoblasen zurück und umgeben sich auch im realen Leben bevorzugt mit Gleichgesinnten. Immer öfter wird Politik mit Lagerdenken betrieben. Dagegen wollte das Projekt "Österreich spricht" von DER STANDARD etwas unternehmen. In den vergangenen neun Wochen wurden daher Menschen in ganz Österreich zur größten Diskussion des Landes eingeladen – mit dem Ziel, Personen zu einem persönlichen Vieraugengespräch zusammenzubringen, die nahe beieinander wohnen, aber möglichst unterschiedlicher Meinung sind.

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Dieser Versuch, die gesellschaftlichen Bruchlinien durch Begegnungen Andersdenkender zu überbrücken, stieß auf enormen Andrang. In Summe meldeten sich 10.000 Menschen auf derStandard.at an. Mithilfe von polarisierenden Ja/Nein-Fragen, die zur Registrierung gestellt wurden, sowie eines Algorithmus, der die Profile der Teilnehmer und Teilnehmerinnen anhand der Antworten und deren Postleitzahl analysierte, ließen sich in Summe mehr als 3.800 Gesprächspaare matchen. Am Samstag, dem 13. Oktober 2018, um 15 Uhr treffen sich nun im ganzen Land tausende Menschen zum politischen Zwiegespräch.

3.800 Gesprächspaare

"Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer leisten einen wichtigen Beitrag zur Diskussionskultur in diesem Land. Wir wünschen ihnen viele gute Erkenntnisse bei Österreichs größter Diskussion", sagte STANDARD-Chefredakteur Martin Kotynek bereits im Vorfeld. Diese Ansicht teilte neben Bundeskanzler Sebastian Kurz und weiteren führenden heimischen Politikern auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen: "Wir dürfen, ja, wir sollen ruhig verschiedener Meinung sein. Der oder die Andersdenkende kann auch recht haben. Das ist das Wesen von Demokratie. Und: Durchs Reden kommen die Leut z'samm, heißt es. Durchs Streiten auch. Den Versuch ist es allemal wert. Ich freue mich, dass es 'Österreich spricht' gibt, und wünsche allen Teilnehmenden interessante Zwiegespräche und Diskussionen."

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Viel Gesprächsstoff

Und zu debattieren gibt es viel, was sich bereits während der Anmeldephase zeigte. Die Teilnehmer mussten zur Registrierung sieben polarisierende Ja/Nein-Fragen beantworten. Zum Beispiel "Leistet die Regierung gute Arbeit für die Zukunft des Landes?" oder "Sollte Rauchen in Lokalen verboten sein?". Zur Erfassung und Lukrierung der Teilnehmerschaft versuchte DER STANDARD über seine eigene Reichweite hinaus mit gezielten Marketingkampagnen in Fremdmedien sowie Social-Media-Targeting für Meinungsvielfalt unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu sorgen. Die Bemühungen haben sich gelohnt: Denn wenngleich nicht alle gematchten Gesprächspaare gänzlich gegensätzlicher Meinung sind, liegen die Paare im Schnitt bei drei Fragen auseinander. Für Gesprächsstoff ist damit gesorgt.

Video: Die Fakten zu "Österreich spricht" im Kurzüberblick.
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Islam und Europa

Das vordergründig am stärksten polarisierende Thema unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern ist die Integration von Menschen mit muslimischem Glauben. Gefolgt von der Flüchtlingsdebatte. Im Detail zeigen sich noch beträchtlichere demografische Unterschiede, als auf den ersten Blick ersichtlich ist. Bei der Frage etwa, ob die Gesellschaft derzeit verlangt, dass Mütter ihre Karriere für die Kindererziehung hintanstellen, liegen beispielsweise Frauen unter 30 Jahren und Frauen über 65 Jahren, die in Großstädten wohnen, am weitesten auseinander.

Die Frage "Ist der Islam mit den europäischen Werten vereinbar?" beantworteten Männer über 65 Jahre, die nicht in Großstädten leben, mehrheitlich mit Nein, Frauen aus Großstädten unter 30 Jahre mit überwiegender Mehrheit mit Ja.

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Männer und Frauen generell spaltet aber der EU-Grenzschutz am stärksten, wie die Einzelauswertungen verdeutlicht. 41,9 Prozent der unter 30-jährigen Männer, die außerhalb von Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern leben, meinen, die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sollten ihre Außengrenzen schließen. 90 Prozent der gleichaltrigen Frauen, die in größeren heimischen Städten wohnen, sehen das nicht so.

Rauchen und regieren

Die Frage, ob Rauchen in Lokalen generell verboten werden sollte, beantwortete fast jeder fünfte teilnehmende Mann mit Nein. Hingegen sprechen sich 87 Prozent der Frauen für ein Rauchverbot aus. Nicht nur dieser Wert und das jüngst mit fasst 900.000 Unterschriften beendete Don't-smoke-Volksbegehren, sondern auch die Bewertung Ihrer Arbeit vonseiten der "Österreich spricht"-Teilnehmer und -Teilnehmerinnen sollte der Bundesregierung zu denken geben. 84,5 Prozent meinen, die türkis-blaue Koalition leiste keine gute Arbeit für die Zukunft des Landes. Wenngleich es sich bei "Österreich spricht" gewiss nicht um eine statistisch repräsentative Erhebung handelt, dürften sich hier auch aktuelle Skandale rund um das Innenministerium sowie strittige Beschlüsse wie die Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes (Stichwort Zwölfstundentag) und der Plan zu einem neuen Mietrecht, das für höhere Mieten in Zinshäusern sorgen könnte, niedergeschlagen haben.

Video: Ein Klimawandel-Skeptiker trifft eine Boku-Studentin. Einige Paare hat DER STANDARD bereits im Vorfeld begleitet.
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Massentierhaltung und Trump

Noch stärkere Einigkeit herrscht beim Thema Massentierhaltung. Obgleich laut Statistik Austria in Österreich jährlich fast 100 Kilogramm Fleisch pro Kopf verzehrt werden, gibt es sichtliche Bedenken zum Umgang mit Nutztieren und den Folgen für die Umwelt. Unter den "Österreich spricht"-Teilnehmenden sagen 87,4 Prozent, dass Fleisch aus Massentierhaltung ethisch und ökologisch nicht vertretbar ist. Bei den Frauen sehen das durchschnittlich sogar nur 3,3 Prozent anders.

Ein noch klarerer Fall ist nur Donald Trump. 93,4 Prozent der Teilnehmer und Teilnehmerinnen meinen, die Arbeit des aktuellen US-Präsidenten sei der Welt nicht zuträglich. Bei Frauen unter 30 Jahren, die nicht in Großstädten leben, gibt es tatsächlich lediglich 0,7 Prozent Zustimmung für Trumps Politik. Immerhin jeder zehnte Mann unter 30 Jahren, der nicht in Großstädten lebt, meint, dass sich Trumps politisches Schaffen positiv auf die Welt auswirkt.

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Schüler bis Pensionisten

Während die Altersverteilung innerhalb der 3.800 Gesprächspaare weitgehend ausgeglichen ist (49,47 Prozent sind jünger als 40, 50,53 Prozent älter), überwiegt der Männeranteil mit 68,6 Prozent deutlich. Ein Phänomen, das sich bei online initiierten Interaktionen immer wieder zeigt.

Keine Überraschung gibt es bei der Herkunft der Teilnehmer. Wien führt hier vor Graz und Innsbruck. Die beruflichen Hintergründe variieren wiederum stark. So meldeten sich in Summe 1.088 Studenten und 803 Pensionisten an. Bei den Einzelnennungen führen Lehrer (366) vor Arbeitern (230), Informatikern (185), Unternehmensberatern (129) und Ärzten (118).

Weiters meldeten sich unter anderem 238 künstlerisch Tätige an, darunter Schauspieler, Fotografen, Filmschaffende, Musiker und Maler. Elf Politiker, zehn Privatiers, sieben Lokführer, sechs Soldaten und Piloten sowie vier Bürgermeister und ein Barista machen ebenfalls mit.

Zum Vergrößern der Karte hereinzoomen. Über die Postleitzahl-Suche sehen Sie, wie viele Menschen sich aus Ihrem Ort bei "Österreich spricht" angemeldet haben.

User-Berichte und Reportagen

Wie einige der tausenden Debatten verlaufen sind, lesen Sie in den kommenden Tagen online und in der Zeitung in Form von Reportagen und User-Berichten. Zum Auftakt hat DER STANDARD bereits im Vorfeld sehr unterschiedliche Paarungen begleitet. Unter anderem einen Klimawandel-Skeptiker und eine Boku-Studentin, die einander in einem Lokal in Wien trafen und einander ins Grübeln brachten. Zudem haben wir für Sie nützliche Tipps und stichhaltige Fakten für konstruktive Diskussionen vorbereitet. (Autor: Zsolt Wilhelm; Daten: Daniela Yeoh, Michael Matzenberger; Grafik: Wolfram Leitner; Videos: Andreas Müller, Isabella Scholda, Ayham Yossef, 12.10.2018)