Stefan Hammer, Professor für Rechtsphilosophie, hält es für ein Problem, dass der säkulare demokratische Staat eigentlich immer nur religiöse, nicht aber nichtreligiöse Weltanschauungen einbezieht.

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Das Thema Religion taucht in der Politik immer wieder auf. Besonders oft im Zusammenhang mit Integrationsfragen, aber auch in der Bildungspolitik. Stichwörter: Kreuz, Kopftuch, Ethikunterricht. Zugleich wächst die Gruppe der Konfessionsfreien bzw. Nichtgläubigen am stärksten. Die Vortragsreihe "Fachdidaktik kontrovers", in Kooperation von Philosoph Konrad Paul Liessmann und dem STANDARD organisiert, widmet sich daher der Frage "Wie viel Gott braucht die Schule? Über das Verhältnis von Religion und Bildung". Zum Auftakt spricht Rechtsphilosoph Stefan Hammer am Mittwoch (17 Uhr, NIG, Hörsaal 3D, Universitätsstraße 7) zum Thema "Schulunterricht nur über oder auch in Religion: Was verhilft zur gebildeten Selbstbestimmung?".

STANDARD: Der Titel der Vortragsreihe lautet: "Wie viel Gott braucht die Schule?" Ich adaptiere die Frage für den Juristen: Wie viel Gott darf denn in die Schule in einem an sich säkularen Staat hinein?

Hammer: Säkularer Staat heißt ja nicht laizistischer Staat. Ein säkularer Staat grenzt Religion nicht aus, sondern lässt sie grundsätzlich im öffentlichen Raum, und damit auch in der Schule, zu – aus dem Verständnis heraus, dass auch Religionen etwas zum säkularen politischen Diskurs beitragen können. Nur muss das auf einer religiös und weltanschaulich neutralen Basis geschehen.

STANDARD: Wir haben ja quasi eine Konkurrenzsituation: Welcher Gott darf in die Schule, oder müssen, wenn einer darf, alle Götter hinein dürfen? Wo sind da die juristischen Grenzen gezogen?

Hammer: Derzeit ist Religionsunterricht vorgesehen für alle gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften, nicht jedoch für Bekenntnisgemeinschaften oder andere religiöse Richtungen. Ob diese Rechtslage heute noch angemessen ist, ist sehr fraglich, weil zwar theoretisch die Möglichkeit besteht, dass eine religiöse Richtung auch einen öffentlich-rechtlichen Status und die damit verbundenen Rechte erlangen kann, nur sind die Bedingungen so prohibitiv, dass kaum mehr neue dazukommen können.

STANDARD: Ketzerische Frage: Ist Österreich überhaupt ein säkularer Staat? Wenn Säkularisierung die Trennung von Religion und Staat meint, wie geht das zusammen mit dem Konkordat, das der katholischen Kirche sehr weitgehende Rechte einräumt: Staatlich finanzierten Religionsunterricht, Finanzierung der Personalkosten für konfessionelle Privatschulen, die Curricula für den Religionsunterricht müssen dem Ministerium nur vorgelegt werden, dieses hat aber kein Genehmigungsrecht et cetera?

Hammer: Trennung darf man nicht so kategorial verstehen. Säkularität bedeutet religiöse Neutralität. Die muss institutionell garantiert sein. Aber Trennung heißt nicht Laizismus, wo man sagt, die öffentliche Sphäre muss religionsfrei sein. Ich glaube, das ist auch berechtigt. Wichtig ist nur, dass es keine Privilegierungen gibt. Das wäre ein Rückfall in Staatskirchenverhältnisse. Die Bevorzugung genießt ja nicht nur die katholische Kirche, sondern alle gesetzlich Anerkannten sind prinzipiell gleichgestellt.

STANDARD: Das heißt, alle Rechte, die die katholische Kirche durch das Konkordat gesichert hat, stehen automatisch auch allen anderen anerkannten Kirchen zu?

Hammer: Ja. Österreich ist zwar gegenüber der katholischen Kirche völkerrechtlich gebunden und müsste verhandeln, wenn es etwas ändern will. Das, was herauskommt, muss dann aber über das Gleichbehandlungsprinzip auch allen anderen zugestanden werden, obwohl sie keine eigene völkerrechtliche Position haben. Die Privilegierungsproblematik besteht eher in der Bevorzugung der ganzen Gruppe der gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaften gegenüber allen nichtanerkannten, weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verlangt, dass jede Gruppe die gleiche faire Chance haben muss, den privilegierten Status zu erlangen, und davon kann man in Österreich nicht sprechen.

STANDARD: Welchen Status haben denn da Konfessionsfreie, Nichtreligiöse und Atheisten? Da sie nicht organisiert sind, gar keinen?

Hammer: Sie gelten nicht als Religion, sie können sich nur in privaten Vereinen organisieren.

STANDARD: Wir sprechen in Österreich von einem Konzept "inklusiver Neutralität" zwischen Kirchen und Staat. Was heißt das?

Hammer: Inklusiv heißt, dass der säkulare demokratische Staat religiös-weltanschauliche Positionen nicht ausgrenzt, sondern sie hereinnimmt, vor allem wo Fragen mit ethischen Implikationen verhandelt werden, weil man im Sinne des Philosophen Jürgen Habermas nicht riskieren will, dass bestimmte Sinnangebote von vornherein ausgeschlossen werden.

STANDARD: Ist es nicht vielmehr so, dass faktisch eigentlich immer nur die religiöse Dimension einbezogen wird, aber nicht die nichtreligiöse Weltanschauung?

Hammer: Ja, das stimmt insofern, als vielfach nur Religionsgemeinschaften den juristischen Bezugspunkt bilden. Ich sehe das auch sonst als Problem. Es gibt vom angloamerikanischen Rechtsphilosophen Ronald Dworkin, dem Autor des Buchs Religion ohne Gott, den Vorschlag, die Religionsfreiheit zu einem allgemeinen Recht auf ethische Selbstbestimmung zu erweitern. Dann würden bestimmte Bevorzugungen, die nur Religionen begünstigen, übergeführt in allgemeiner formulierte Gründe, aus denen man auf ethische Grundpositionen Rücksicht nehmen muss. Als Beispiel nimmt er Drogen. Einige indianische Gesellschaften haben eine rituelle Form des Drogenkonsums, das Peyote-Ritual, mit einem Kaktus, der die psychoaktive Droge Meskalin enthält. Die dürfen das, weil es als Religionsfreiheit geschützt ist. Wenn man diese bewusstseinserweiternde Erfahrung, wie etwa Aldous Huxley, als für das persönliche Selbst essenziell ansieht, darf man das nicht, weil man sich nicht auf eine anerkannte Religion berufen kann. Das ist tatsächlich ein Problem, ob man nur aus religiösen Gründen bestimmte Ausnahmen allgemeiner Verbote für sich in Anspruch nehmen kann. Das Paradebeispiel für eine nicht auf Religion verengte Berücksichtigung weltanschaulicher Grundeinstellungen ist der Wehrersatzdienst aus Gewissensgründen. Aber je weiter man das ausdehnt, desto schwieriger wird es zu administrieren, und solche Öffnungen verstärken die Gegentendenz zur ausnahmslosen Durchsetzung der allgemeinen säkularen Standards. Das heißt, wenn Drogenverbot, dann für alle.

STANDARD: Sie schreiben, die juristische Privilegierung des Kreuzes im Klassenzimmer sei aus grundrechtlicher Perspektive schwer zu rechtfertigen. Warum? Laut Religionsunterrichtsgesetz muss in jeder Klasse in einer Schule, in der die Mehrheit der Kinder katholisch ist, ein Kreuz aufgehängt werden. Für eine Änderung müsste der Vatikan zustimmen.

Hammer: Ich halte das Kreuz im Klassenzimmer für schwer zu rechtfertigen, weil es eine noch viel stärkere institutionelle Identifikation mit einer bestimmten Religion impliziert, als wenn individuelle Lehrpersonen religiöse Symbole an sich tragen. Wenn ich eine Physiklehrerin habe, die halt zufällig verschleiert ist, bedeutet das für mich nicht, dass sich die Schule mit dem Islam identifiziert, aber wenn ich als Nichtchrist in einer Schule sitze, in der permanent das Kreuz an der Wand hängt, ist das für mich die Botschaft, dass diese Schule in irgendeiner Weise dem Christentum verpflichtet sein muss. Das halte ich für viel problematischer im Hinblick auf die staatliche Neutralität. Und wenn man es auf die positive Religionsfreiheit der christlichen Schüler stützt, kann man es nicht von der christlichen Mehrheit in der Schule abhängig machen. Außerdem müsste man auch andere religiöse Symbole anbringen können.

STANDARD: Die Regierung möchte für Kindergärten und Volksschulen ein Kopftuchverbot. Lässt sich das juristisch wasserdicht argumentieren, ohne auch alle anderen religiösen Symbole – vom Kreuz über die Kippa bis zum Dastar, dem Turban der Sikhs – zu verbieten?

Hammer: Wenn der Staat einseitig definiert, ein Kopftuch ist immer ein Zeichen der politischen Agitation, der Diskriminierung oder was immer, dann ist das eine Vergewaltigung des potenziellen Selbstverständnisses von Kopftuchträgerinnen, die das auch aus ganz anderen, eben auch genuin religiösen Gründen tun können. Im Kindergarten steht das Kopftuch im Schutzbereich des Elternrechts, das auch das Recht umfasst, die religiöse Orientierung der Kinder mitzubestimmen. Zumindest müsste man dann wirklich alle religiösen Zeichen und Bekleidungsmerkmale aus dem Kindergarten und der Volksschule ausschließen.

STANDARD: Das scheint eher unrealistisch. Vizekanzler Heinz-Christian Strache hat es als "Kultursymbol" verteidigt. Kanzler Sebastian Kurz sagte noch als Integrationsminister: "Das Kreuz bleibt." Was bedeutet das aber für die negative Religionsfreiheit von Kindern, deren Eltern wollen, dass sie frei von Religion aufwachsen?

Hammer: Das kann ich ja nur für mein eigenes Kind sagen. Wenn es in der Schule konfrontiert mit anderen religiösen Symbolen wird, greift die negative Religionsfreiheit nicht, weil die kein Recht auf Konfrontationsschutz mit Symbolen impliziert, die nicht meiner Überzeugung entsprechen.

STANDARD: Ist damit das Recht, dass ich ein Kopftuch tragen darf etc., immer das stärkere Grundrecht?

Hammer: Nicht stärker, aber die positive Religionsfreiheit muss in dieser Konstellation überwiegen, weil sie die eigene Person oder das eigene Kind betrifft. Ich kann für mich ein Recht in Anspruch nehmen, mich zu kleiden, wie ich will, aber nicht von anderen verlangen, sich nicht so zu kleiden, wie es mir nicht gefällt. Negative Religionsfreiheit besagt, dass ich nicht gezwungen werden kann zu einem religiösen Bekenntnis, etwa an Schulgebeten teilzunehmen. Aber ich kann auch nicht von anderen verlangen, dass sie etwas, das auf ihrem religiösen Bekenntnis gründet, nicht tun.

STANDARD: Was ist dann aus juristischer Sicht dazu zu sagen, dass die Regierung einen verpflichtenden Ethikunterricht nur für jene einführen will, die keinen konfessionellen Religionsunterricht besuchen? Ist der Zwang zur Ethik okay?

Hammer: Wahrscheinlich wird es vom Mainstream als juristisch okay angesehen, aber ich zweifle daran. Wenn Ethikunterricht per definitionem etwas ist, das alle gleichermaßen angeht, ist das schon ein Problem. Wenn ich Ethik unterrichte und jedenfalls religiös neutral sein muss, dann rechtfertigt sich aus dieser religiösen Neutralität gerade nicht, dass es bestimmte Religionsangehörige nicht machen müssen. Dieses Modell ist meines Erachtens überholungsbedürftig. Ziel sollte ja sein, dass alle Schüler – religiöse und säkular denkende – lernen, sich in der öffentlichen Debatte zu allen möglichen Themen mit religiösen und nichtreligiösen Positionen argumentativ auseinanderzusetzen. Das können sie nur, wenn sie tatsächlich konfrontiert werden mit religiösen und nichtreligiösen weltanschaulichen Positionen, die jeweils von Lehrenden selbst authentisch vertreten werden. (Lisa Nimmervoll, 15.10.2018)