In Tunesien wird immer wieder protestiert – wie hier für das Recht von Frauen.

Foto: APA/FETHI BELAID

Kairo – Tunesiens sozioökonomische Lage bleibt extrem angespannt. Die nur bedingt regierungsfähige politische Klasse im Land findet auch weiterhin keine geeigneten Mittel zur Bekämpfung der galoppierenden Inflation, des Wertverfall des tunesischen Dinars oder der hohen Arbeitslosigkeit, während die Marginalisierung weiter Teile des Landes immer wieder Streiks und Proteste provoziert.

Genau diese Probleme könnten sich in naher Zukunft jedoch noch massiv verschärfen. Denn Tunesien verhandelt derzeit mit der EU über ein Freihandelsabkommen, das – im Falle eines erfolgreichen Abschlusses – weitreichende Auswirkungen für die tunesische Wirtschaft haben dürfte. Offiziell laufen die Verhandlungen seit 2016. Eine zweite Verhandlungsrunde fand im Mai 2018 statt. Und die EU will die Gespräche schnellstmöglich abschließen. Denn sie dränge auf eine Unterzeichnung von Aleca – so das französische Akronym für das Abkommen – im kommenden Jahr, sagt Marco Jonville von der tunesischen Menschenrechtsorganisation FTDES dem STANDARD.

Konferenz in Tunis

Seine NGO organisierte erst letzte Woche in Kooperation mit der deutschen SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) eine Konferenz in Tunis, auf der mögliche wirtschaftliche und soziale Folgen des Abkommens diskutiert wurden. Während die bisher bekannten Details von Aleca massive Vorbehalte in Tunesiens Zivilgesellschaft und der Gewerkschaftsszene schüren, warnten auf der Konferenz auch AktivistInnen, Gewerkschaftler und sogar ehemalige Regierungsoffizielle aus Marokko, Algerien oder Senegal vor den potenziell verheerenden Folgen solcher Abkommen für afrikanische Länder.

"In Tunesien wird von der Linken und der Zivilgesellschaft immer wieder betont, dass die Revolution 2011 ohne die sozioökonomischen Verwerfungen, die das 1995 abgeschlossene und 1998 in Kraft getretene Partnerschaftsabkommen zwischen Tunesien und der EU nach sich gezogen haben, nie stattgefunden hätte", sagt der Leiter des FES-Büros in Tunis, Henrik Meyer, dem Standard. Dieses Abkommen sei eine Art Vorläufer eines Freihandelsabkommens, dass unter anderem dazu geführt habe, dass Tunesiens Textilsektor nahezu irrelevant geworden sei, so Meyer. Aleca sei jedoch weitreichender als das 1995er Abkommen und könne potenziell auch weitreichendere Folgen haben, glaubt er.

Liberalisierung des Handels

In der Tat wird im Rahmen der Aleca-Gespräche nicht nur über eine Liberalisierung des Handels von Industrieprodukten verhandelt, sondern auch über die schrittweise Öffnung des Agrar- und Fischereihandels, die Übernahme von Hygiene- und Pflanzenschutzregeln, Investitionsregularien oder den Schutz geistiger Eigentumsrechte. Rechtsstreitigkeiten sollen künftig vor supranationalen Gerichten verhandelt werden, denen zusätzlich die Kompetenz zugestanden wird, Unklarheiten im Vertragstext selbst für die Partnerstaaten rechtlich bindend zu interpretieren.

Jonville befürchtet derweil, dass eine Öffnung des Agrarsektors Tunesiens Lebensmittelsouveränität oder sogar die Lebensmittelsicherheit gefährden könnte. "Die Produktivität in diesem Sektor ist in Europa sieben Mal höher als in Tunesien. Produzenten hier können daher keinesfalls mit dem hochsubventionierten und mechanisierten Agrarsektor Europas konkurrieren", glaubt er. Solange es keine umfassende Evaluation des 1995er-Abkommens und dessen Folgen für Tunesiens Wirtschaft gegeben habe, spricht er sich ganz eindeutig gegen Aleca aus.

Integration in den europäischen Wirtschaftsraum

Auch Meyer bleibt skeptisch. Das problematische an einem Freihandelsabkommen sei eigentlich das Wort "frei". "Wenn wir ein Handelsabkommen abschließen würden, das tunesische Interessen berücksichtigen würde, kann das ein interessantes Entwicklungsinstrument für Tunesien werden. Das Land ist angewiesen auf eine Integration in den europäischen Wirtschaftsraum, aber wenn wir das unter den Bedingungen eines freien Handels tun würden, dann wird Tunesien nicht integriert, sondern von der europäischen Wirtschaft überrannt", so Meyer.

Ahmed Ben Mustafa, ein ehemaliger tunesischer Diplomat, spricht sich ebenso deutlich gegen Aleca aus und optiert dafür, dass Tunesien auf bilaterale Verträge mit europäischen Staaten setzen solle. Für ihn ist das derzeit diskutierte Abkommen eine Verlängerung der Herrschaftsverhältnisse während und nach Ende der Kolonialzeit in den 1950ern und der für Tunesien nachteiligen Wirtschaftsintegration mit der ehemaligen Protektoratsmacht Frankreich. Aleca weise elementare Ähnlichkeiten mit der damaligen französisch-tunesischen Wirtschaftsintegration auf.

Ob Tunesiens Zivilgesellschaft dem Abkommen etwas entgegensetzen kann, bleibt derweil ungewiss. Denn die wichtigste soziale Gruppe im Land – die Jugend – interessiert sich bisher wenig für die Verhandlungen und glänzte auf der Konferenz in Tunis weitgehend mit Abwesenheit. (Sofian Philip Naceur, 16.10.2018)