Zwei Minuten Lärm, dann ist es wieder still in der Oaklands School im Nordosten Londons. Die Schüler sitzen in den Klassen, nur noch Sadia und Amaan sind in den Gängen unterwegs, sie führen eine kleine Delegation aus Wien durch ihre Schule. Das ist keine Seltenheit, denn Oaklands hat den Aufstieg von einer Problem- zu einer Vorzeigeschule geschafft. Viele interessieren sich dafür, wie diese Transformation gelingt. Auch Christoph Wiederkehr, Klubchef der Wiener Neos, und Bettina Emmerling, Bildungssprecherin der städtischen Pinken, sind deswegen da.

Eine für die Oaklands School kleine Klasse. Die Größe sei laut der Direktorin nicht entscheidend, auch Gruppen mit 25 Kindern würden gut abschneiden.

Die Ausgangssituation an dieser Schule ist eine, die man in Wien wahrscheinlich als katastrophal bezeichnen würde: 90 Prozent der etwa 800 Schülerinnen und Schüler gehören einer einzigen Ethnie an – ihre Eltern oder Großeltern kommen aus Bangladesch, die Kinder sprechen zu Hause großteils Sylheti, einen bengalischen Dialekt, sie sind Muslime, und die Mädchen tragen Kopftuch.

Und dennoch: Im Vergleich mit anderen Schulen steht die Oaklands School gut da, die Gänge sind voll mit Fotos von Schülern, die Preise gewonnen haben, und die Absolventen schaffen es an gute Unis. Amaan will Anwalt werden, Fahmida, Imam und Rashed – alle drei im letzten Schuljahr und an diesem Nachmittag freiwillig zur Nachhilfe da – Ärzte.

Harte und softe Maßnahmen

Patrice Canavan ist stolz auf ihre Schüler und darauf, was sie in den 13 Jahren geschafft hat, seit sie die Schule leitet. "Damals hätte ich sicher keinen Besuch zugelassen", erzählt sie. Das Benehmen der Schüler sei das größte Problem gewesen, aber auch Lehrer waren demotiviert. Canavan griff durch – sie entließ Lehrer wie Schüler, startete gleichzeitig aber auch softere Projekte: eine neue Uniform – Kopftücher inklusive – und eine Art Motto, an das sich alle halten müssen. Werte stehen im Zentrum, etwa Respekt und der Wille, etwas zu erreichen.

Die Direktorin war aber nicht auf sich allein gestellt. 2003 wurde mit der London Challenge ein Programm gestartet, das Schulen wie dieser Unterstützung bot. Denn die Schulen der Hauptstadt schnitten im britischen Vergleich extrem schlecht ab. "Als ich nach dem Studium beschloss, in der Stadt zu arbeiten, sahen mich viele Leute verwundert an. Damals war klar: Wer gut ist, geht aufs Land. Ich wollte aber bleiben", erinnert sie sich.

Auch für den Turnunterricht gibt es eine Schuluniform – samt Kopftuch. An der Oaklands School haben die meisten Kinder Migrationshintergrund.
Foto: Lukas Hagelmüller

2003 erfolgte der Startschuss zur Challenge. Andrew Adonis war damals Staatssekretär für Bildung. Heute sitzt er im House of Lords, der zweiten parlamentarischen Kammer des britischen Parlaments, und kämpft für eine neuerliche Brexit-Abstimmung. Der Labour-Politiker spricht mit genauso viel Begeisterung über die Bildungsreform – die London Challenge war ein Teil davon –, die Tony Blair Ende der 90er anstieß. "Bildung war ihm ein Anliegen, und deswegen war genug Geld da. Das war das Wichtigste."

Labour ließ sich die Reform einiges kosten. 200 von 440 Schulen wurden in London komplett oder großteils abgerissen und neu gebaut – drei bis vier Milliarden Pfund habe allein das gekostet. "Es reichte bei vielen Schulen nicht, einfach das Türschild zu tauschen und guten Spirit zu verbreiten. Vieles musste neu erfunden werden." Groß verkaufen habe man das Programm nicht müssen. "Die Schulen waren viel zu schlecht. Und nicht viele Menschen können 40.000 Euro pro Jahr für eine Privatschule zahlen." London investierte über acht Jahre etwa 80 Millionen Pfund.

Heute würden sich die schlechtesten Schulen des Landes in strukturschwachen Regionen rund um London befinden. Jene Gruppe, die in Bildungsvergleichen am schlechtesten abschneidet, sind nicht Migranten, sondern "white boys".

Keine Angst vor Vergleichen

Essenziell seien laut Canavan und Adonis die Verfügbarkeit und die Transparenz von Daten gewesen. "Ich konnte mir online ansehen, wo es eine Schule mit ähnlichen Voraussetzungen gibt und wie deren Schüler beispielsweise in Englisch abschneiden. Waren die Unterschiede groß, dann habe ich mich dort gemeldet und gefragt, wie sie das machen", sagt Canavan. Vergleiche habe niemand gescheut, sondern als hilfreich erachtet. Als Schule befinde man sich in einem regelrechten Markt – auch Eltern haben Zugriff auf die Daten und informieren sich so über potenzielle Schulen für ihre Kinder. "Natürlich sorgt das auch für Druck", sagt Canavan. Sie komme damit gut klar.

Christoph Wiederkehr von den Wiener Neos ließ sich in London zeigen, wie die Schulen der Stadt besser wurden. Ein wichtiger Aspekt war eine Fülle an Daten zu Schulen, die von jedem aufrufbar waren.
Foto: Lukas Hagelmüller

In Österreich werden Daten zu Grundkompetenzen nur in der vierten und der achten Schulstufe erhoben. Und: Veröffentlicht werden die Daten nur teilweise. Da wünschen sich die Neos mehr.

Was Wien nachmachen soll

Natürlich: Auch in London ist noch nicht alles perfekt. Nach wie vor schicken viele Eltern ihre Kinder in teure Privatschulen, und im internationalen Vergleich ist das Bildungssystem nicht auf den vordersten Plätzen zu finden. "Man kann und muss nicht alles nach Österreich bringen, was hier gemacht wurde", sagt Wiederkehr. Dennoch nehmen er und Emmerling einige To-dos mit: etwa mehr Autonomie für Direktoren und ein Coaching für Lehrer. Vorzeichen für Veränderungen sind da: Auch Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) sprach vergangene Woche von der London Challenge – 501 Schulen wurden vom Ministerium identifiziert. Expertenteams sollen nun maßgeschneiderte Pläne für jeden Standort erstellen.

Handlungsbedarf ist da: Nirgendwo anders in Österreich besuchen so viele Kinder und Jugendliche eine Privatschule wie in Wien – fast ein Fünftel aller Schüler. Gleichzeitig erreichen 60 Prozent der Wiener NMS-Schüler in der 8. Schulstufe die Bildungsziele in Deutsch nicht. In Niederösterreich sind es "nur" 20 Prozent. "Wir müssen jetzt handeln. In London wurde sichtbar, dass ein Reförmchen da nicht reicht. Wir brauchen einen großen Wurf – über Parteigrenzen hinweg", sagt Wiederkehr. Ganz konkret werde man sich in den nächsten Wochen weiterhin für die 100 zusätzlichen Schulpsychologen beziehungsweise Sozialarbeiter starkmachen, ergänzt Emmerling.

Lehrerinnen und Lehrer werden in Großbritannien von den Direktoren ausgewählt – und können auch gefeuert werden. An der Oaklands School muss das Lehrpersonal beim Bewerbungsprozess auch unterrichten, Direktorin Canavan sieht zu. "Wenn ich sie nicht gut finde, nehme ich sie nicht."
Foto: Lukas Hagelmüller

Von Canavan wollten die Pinken dann noch wissen, ob es keine Schüler gebe, die gar kein Englisch sprechen. "Natürlich, jedes Jahr. Aber das ist kein Problem, die bekommen mehr Unterstützung", sagt die Direktorin. Klar sei, dass in der Schule Englisch gesprochen werden müsse – auch in den Pausen. Beim Hören der heimischen Lösung mit separaten Deutschklassen hebt sie skeptisch die Augenbrauen. "Wissen Sie, das 'Wir' ist wirklich wichtig. Ohne guten Zusammenhalt wären wir keine so erfolgreiche Schule." (lhag, 15.10.2018)