Wolfgang Lutz beschäftigt sich seit Jahren mit Bevölkerungswachstum und Bildung. Er ist Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien.

Foto: Heribert Corn, www.corn.at

Meine These für Österreich in 100 Jahren bezieht sich auf die Menschen, die in Österreich leben, und ihre Nachkommen, ganz unabhängig davon, ob es den österreichischen Staat in seiner heutigen Form noch geben wird oder nicht.

Menschen wird es auf dem heutigen Bundesgebiet mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit geben, und mit hoher Wahrscheinlichkeit wird es ihnen im Durchschnitt auch noch besser gehen als den dort heute lebenden Menschen. In diesem Beitrag versuche ich vom derzeit dominanten Zeitgeist abzusehen und die langfristige Perspektive zu wahren.

Höhere Lebensqualität

In hundert Jahren werden die Österreicher voraussichtlich klüger, gesünder, wohlhabender und auch glücklicher sein als heute. Die rund zehn Millionen Menschen werden urbaner sein, und auch die Zuwanderer werden besser gebildet und besser integriert sein. Wir werden älter an Jahren, aber gleichzeitig länger gesund und geistig fit sein. Wir werden produktiver sein, weniger arbeiten und mehr Zeit für die Pflege von persönlichen Beziehungen, Sport und geistig anregenden Hobbys haben.

Unser Konsum wird sich von material- und energieintensiven Produkten auf Dienstleistungen verlagern, die die Lebensqualität erhöhen, und mit grüner Technologie werden wir CO2-neutral leben und flexibel genug sein, um die Folgen des bereits zu einem gewissen Grad unvermeidlichen Klimawandels zu bewältigen.

Voraussetzung für die Verwirklichung dieses positiven Szenarios ist, dass wir heute die Weichen richtig stellen und in Brain-Power investieren. Das heißt, dass wir verstehen, dass das Gehirn das wichtigste Organ für eine bessere Zukunft ist.

Wir brauchen es, um vorausschauend für uns selbst und andere sorgen zu können, um freier und besser informiert Entscheidungen treffen zu können und wirtschaftlich im globalen Wettbewerb gute Karten zu haben. Und das Gehirn als Sitz der kognitiven und emotionalen Fähigkeiten muss vom ersten Lebenstag an gepflegt und entwickelt werden.

Gerade bei der frühkindlichen Entwicklung muss daher die Gesellschaft viel stärker als bisher in allen Schichten unterstützend eingreifen. Gute Schulen sind für die Realisierung dieses Szenarios extrem wichtig, aber entscheidende Grundlagen der Brain-Power werden schon beim Kleinkind gelegt. Wenn hier die richtige fördernde Stimulation erfolgt, ist das auch eine gute Voraussetzung dafür, später die Motivation und die Fähigkeit zum lebenslangen Lernen zu haben.

Eine unerschöpfliche Ressource

Brain-Power entsteht aus einer ständigen Interaktion zwischen unseren genetischen Veranlagungen und den Erfahrungen und Anregungen aus unserer Umwelt, insbesondere im Kontakt mit anderen Menschen. Positive und stimulierende Erfahrungen sind der Entwicklung förderlich, Zurückweisungen und Traumata können zu Blockaden führen.

Menschen mit mehr Brain-Power, das heißt, mit größeren kognitiven und emotionalen Fähigkeiten, können ihre Ziele in der Regel besser erreichen, was auch dazu führt, dass sie länger gesund leben, befriedigendere menschliche Beziehungen haben und meist auch ein höheres Einkommen erwirtschaften.

Das Beste daran: Unser Gehirn verschleißt sich durch seine häufige Benutzung nicht. Im Gegenteil, es wird dadurch noch besser und stärker. Brain-Power ist die einzige Ressource, die durch Verwendung nicht verbraucht, sondern sogar gestärkt und vermehrt wird.

Und wie geht es mit der Politik weiter? In einer Demokratie folgen die Politiker in der Regel dem, was in den Köpfen der Mehrheit der Wahlberechtigten vorgeht. Sind die Wähler vorausschauend, gut informiert und setzen sich für ihre langfristigen Interessen sowie für die ihrer Kinder und Kindeskinder ein, dann ist auch die Wahrscheinlichkeit höher, dass die Politiker vernünftige und auf Nachhaltigkeit orientierte Politik zum Wohle aller machen. Regieren die unüberlegten kurzfristigen Emotionen wie Abwehrreflexe und Wut, dann sind aus langfristiger Sicht richtige Entscheidungen weniger wahrscheinlich.

Fitte Gehirne

Wenn wir dagegen unser Gehirn benutzen, um die Dinge klug zu Ende zu denken, werden wir auch verstehen, dass Solidarität und sozialer Zusammenhalt letztlich für jeden Einzelnen besser sind als eine Ellbogengesellschaft mit großer Ungleichheit. Das wird mit gut gebildeten und fit gehaltenen Gehirnen besser gelingen, und ich bin zuversichtlich, dass der Anteil solcher Gehirne in Österreich zunehmen wird.

Österreich ist heute keine abgeschlossene Insel der Seligen und kann es auch in Zukunft nicht sein. Um Europa herum – besonders in Afrika – wächst die Bevölkerung weiter rasant, und es wird Milliarden Menschen ohne ordentlichen Arbeitsplatz geben, die durch den Klimawandel verstärkt unter Wasserknappheit und daher auch an Nahrungsmangel leiden werden. Das steigert auch die Wahrscheinlichkeit von Konflikten. Die Bevölkerung wächst gerade dort am stärksten, wo es ohnehin an Ressourcen mangelt und der Klimawandel besonders schlimme Folgen haben wird.

Auch hier kann es langfristige Hoffnung nur durch eine gute Bildung für alle geben. Denn um die Entwicklung der Menschheit auf einen guten Weg zu bringen, wie ihn die Nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen (SDGs) bis ins Jahr 2030 vorzeichnen, braucht die Menschheit auf allen Ebenen mehr Weitsicht.

Dazu müssen Menschen die komplexen Zusammenhänge einer global vernetzten Welt besser verstehen, nach Lösungen für die Probleme des 21. Jahrhunderts suchen und bereit sein, ihr Leben und Handeln anzupassen. Ein hohes Maß an Brain-Power für möglichst viele Menschen ist die Voraussetzung für eine notwendige Transformation, die das Fundament für eine gerechtere und friedlichere Welt legen könnte.

Mit Bildung gegen Armut

Mehr und bessere Bildung führt nachweislich zur Reduktion von Armut und zu besserer Gesundheit, sie steigert die Produktivität und führt in den Entwicklungsländern zur Senkung der Geburtenziffern. Sie erhöht die Anpassungsfähigkeit an jede Art von Wandel – einschließlich des Klimawandels – und fördert die technologische und soziale Innovation, die zu nachhaltigeren Wirtschaftsformen und Verhaltensweisen führen kann.

Mein im vergangenen Jahr geborener Enkel Maximilian hat gute Chancen, das 22. Jahrhundert, vielleicht sogar das Jahr 2118 noch zu erleben. Die Lebenserwartung ist in Österreich in den vergangenen Jahrzehnten um durchschnittlich drei Monate pro Jahr gestiegen.

Wenn das so weitergeht, wird sie in hundert Jahren um 300 Monate, das heißt, um 25 Jahre steigen und damit im Durchschnitt deutlich über 100 Jahren liegen. Selbst wenn sich der Trend abflachen sollte, werden diejenigen, die einen gesunden Lebensstil wählen, nicht rauchen und auch sonst vorausschauend und bewusst durchs Leben schreiten, deutlich länger leben. Der medizinische Fortschritt wird sicherlich ebenfalls hilfreich sein.

Aber es geht ja nicht nur um ein langes Leben, sondern auch um eine erfülltes. Wie können wir das wissenschaftlich-statistisch erfassen? In einem neuen Forschungsprojekt, das vom Europäischen Forschungsrat gefördert wird, arbeitet mein Team gerade an einem neuen Indikator namens "Years of Good Life" (gute Lebensjahre), dessen Entwicklung als Kriterium für nachhaltige Entwicklung dienen soll.

Um möglichst viele Jahre eines guten Lebens zu haben, muss man zunächst einmal überleben. Zusätzlich gehören aber auch subjektive Lebenszufriedenheit und objektive Faktoren wie physische und kognitive Gesundheit und die Vermeidung von Armut dazu.

Wir versuchen, dies für viele Länder der Welt abzuschätzen und auch zu verstehen, wie sich positive (wissenschaftlich-medizinischer Fortschritt, sozialer Zusammenhalt) und negative Faktoren (Klimawandel, Stress und mögliche Konflikte) darauf auswirken. Es ist noch zu früh für Ergebnisse, aber trotz der enormen globalen Gefahren und Herausforderungen zeichnet sich eher eine positive, optimistische Bilanz ab, vor allem dann, wenn wir tatsächlich unsere Brain-Power weiterentwickeln und in naher Zukunft kluge Entscheidungen in Richtung Nachhaltigkeit treffen.

Es würde mich freuen, wenn Maximilian 2118 auf ein langes, erfülltes Leben zurückblickend feststellen könnte, dass sein Großvater mit seiner mutigen Prognose vor langer, langer Zeit gar nicht so falsch lag. (Wolfgang Lutz, 17.10.2018)