"Ich kann über das Erlebte sprechen" titelte der STANDARD den Sportmonolog von Nicola Werdenigg am 20. November 2017. Das Thema sollte Österreichs Medien lange nicht mehr loslassen.

Foto: Heribert Corn corn@corn.at

"heute-Journal"-Moderatorin Marietta Slomka überreicht Philip Bauer im Rahmen der österreichischen Journalismustage die Auszeichnung für die "Story des Jahres 2017".

Foto: Österreichische Journalismustage

Damit hatte Heribert Corn nicht gerechnet. Wir trafen uns am 9. November 2017 in den Räumlichkeiten des STANDARD zu einem Termin mit der ehemaligen Skirennläuferin Nicola Werdenigg. Er sollte die Fotos schießen, ich die Fragen stellen. Business as usual. Über das Thema des Gesprächs hatte ich Corn in der Eile nicht informiert, ein Versäumnis.

Vermutlich dachte er an herzgewinnende Anekdoten aus dem Skizirkus der Siebzigerjahre. Als der Schnee noch vom Himmel fiel und die Skirennläufer ungebremst in Holzlattenzäune einschlugen. Die guten alten Zeiten eben, eine Winteridylle.

Aber Werdenigg sprach nicht über gführigen Schnee. Sie sprach über einen pädophilen Heimleiter, eine Vergewaltigung durch Teamkollegen, über Scham und Schuldgefühle. Ich hörte Corn hinter mir seufzen, schlucken, durchatmen. Und zwischendurch fotografieren.

Ich hatte Werdenigg einige Tage zuvor telefonisch kontaktiert, um mich mit ihr über #MeToo im Sport auszutauschen. Wir kannten uns seit Jahren, ich schätzte sie als Querdenkerin und Gesprächspartnerin. Im Sommer hatten wir uns bereits über den Fall eines Wiener Volleyballtrainers unterhalten, dem Mann wurde der Missbrauch mehrerer Mädchen vorgeworfen.

"Ich kann über das Erlebte sprechen" titelte der STANDARD den Sportmonolog von Nicola Werdenigg am 20. November 2017. Das Thema sollte Österreichs Medien lange nicht mehr loslassen.

Das Thema lag Werdenigg spürbar am Herzen. Es war nur logisch, ein weiteres Mal an sie heranzutreten. Diesmal führte der Dialog ohne größeren Umweg zu ihrer eigenen Geschichte, die Zeit war reif.

"Zunächst wollte ich nicht alles erzählen", sagt Werdenigg elf Monate später bei einem Spaziergang durch den Wiener Stadtpark. "Als wir uns dann gegenübersaßen, wurde mir aber schnell klar, dass es alles oder nichts sein muss. Die ungeschönte Wahrheit."

"Das wird Wellen schlagen"

Noch am selben Tag schrieb mir Kollege Corn eine E-Mail: "Das ist eine unbeschreibliche Geschichte, unbeschreiblich! Wenn ich gewusst hätte, dass sie so auspackt, hätte ich euch sofort allein gelassen. Ich musste einen geeigneten Moment abwarten, bis ich gehen konnte. Obwohl ich gern geblieben wäre, weil es so spannend war. Das wird Wellen schlagen!" Ich war mir da nicht so sicher.

Die Ereignisse lagen immerhin vierzig Jahre zurück. Die Erzählung war glaubwürdig und beklemmend, aber könnte sie Jahrzehnte später tatsächlich für Aufregung sorgen? Sie konnte. Ich hatte sowohl die hiesige Unantastbarkeit der heiligen Kuh namens Skisport als auch die erstaunliche Wehleidigkeit des Österreichischen Skiverbandes (ÖSV) unterschätzt.

"Man hätte die Geschichte entspannt unter den Teppich kehren können", sagt Werdenigg. "Das Thema wäre flott wieder aus den Medien verschwunden." Und was geschah stattdessen? ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel schoss wild aus der Hüfte und drohte Werdenigg mit einer Klage.

"Man wollte mich diskreditieren und mundtot machen, damit kam die Sache erst richtig ins Rollen. Der Schneeball wurde zu einer Lawine." Zunächst berichteten eine weitere Rennläuferin und eine Sportjournalistin von ähnlichen Erfahrungen.

Pistenraupe

Dann meldeten sich mehrere Betroffene aus den größten Ski-Internaten des Landes, und schließlich wurde auch noch eine heimische Skitrainerlegende in der "Süddeutschen Zeitung" der Vergewaltigung bezichtigt. Als wäre die Pistenraupe über die ruhmreiche Geschichte des österreichischen Skisports hinweggefahren.

Werdenigg wurde von Wildfremden über Social-Media-Kanäle beleidigt und von einigen ehemaligen Teamkolleginnen schief angesehen. Hat die 60-Jährige ihren Schritt an die Öffentlichkeit jemals bereut? "Nein, zu keinem Zeitpunkt. Ich hatte immer den Rückhalt meiner Familie. Ich habe die Beleidigungen nicht an mich herangelassen."

Im urbanen Raum – Werdenigg lebt in Wien – seien die Reaktionen überwiegend positiv ausgefallen. "In der Stadt werde ich häufig angesprochen, man bedankt sich bei mir. Rückt der Skilift allerdings näher, sinkt auch die Anerkennung. Als ich in Tirol ein ehemaliges Stammlokal betrat, verstummten ringsum die Gespräche. Ich wollte ein Bier bestellen – man sagte, es sei leider geschlossen."

Story des Jahres

Am 6. Juni wurde der Artikel über Nicola Werdenigg im Rahmen der Österreichischen Journalismustage als "Story des Jahres 2017" ausgezeichnet. In der Begründung der Jury hieß es, die Veröffentlichung habe "eine Zeitenwende eingeleitet.

Der Skisport ist nach dieser Geschichte nicht mehr derselbe wie zuvor. Es wurde aufgebrochen, was sich jahrzehntelang keiner anzurühren getraut hatte. Die Story macht Frauen in ähnlicher Lage Mut – und nimmt jeden Menschen in die Pflicht, künftig hinzusehen."

Die "Kronen Zeitung", ihres Zeichens Sponsor des Skiverbandes, war von der Berichterstattung und der folgenden Ehrung nicht ganz so angetan. "Haben Sie gelogen, Frau Werdenigg?" titelte das Blatt am 14. Juni einen zweiseitigen Artikel, wohlgemerkt ohne der Hauptdarstellerin eine Antwortmöglichkeit einzuräumen.

"Die Überschrift der "Kronen Zeitung" war geschickt gewählt", sagt Werdenigg rückblickend. "Einige Bekannte, die sich hauptsächlich aus dem Boulevard informieren, meinten, sie würden mir zwar glauben, offiziell sei allerdings nie etwas passiert, offiziell würde das Problem der sexualisierten Gewalt nicht existieren. Wir haben noch viel Arbeit vor uns." (Philip Bauer, 20.10.2018)