Abdullah Öcalan war ein schlechter Volleyballspieler. Aber er hat immer gewonnen. Auch gegen mich. Im September 1990 stand ich ihm auf einem provisorischen Spielfeld gegenüber, mit gehörigem Respekt. Öcalan war zu diesem Zeitpunkt einer der meistgesuchten Terroristen der Welt, ein Phantom, das ständig den Aufenthaltsort wechselte, um Angriffen zu entgehen, Staatsfeind Nummer eins der Türkei.

Adullah Öcalan war – und ist – Chef der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, mir gegenüber holte er gerade zum Service aus, spielte den Ball locker über das gespannte Netz, ein paar Mal wurde der Ball aufgespielt, und wieder machte sein Team den Punkt.

Abdullah Öcalan blickt über das Land, das er niemals beherrschte: Der Traum der türkischen Kurden von der Unabhängigkeit blieb unerfüllt. Die PKK operiert nach wie vor in den Bergen.
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Die anderen Spieler am Feld, allesamt Guerilleros der PKK, waren vor Ehrfurcht und Verehrung nahezu gelähmt. Öcalan war nicht nur Anführer und Idol, er war ihr Vater, ihr Prophet, herabgestiegen auf dieses Volleyball-Feld. Öcalan wurde gleichsam gefürchtet wie verehrt, eine gute Basis für die straffe Führung der Organisation.

Das Volleyball-Netz war in einem Ausbildungslager der PKK im Niemandsland der libanesischen Bekaa-Ebene gespannt. Den Kontakt hatten kurdische Freunde in Wien geknüpft. Ich flog nach Syrien, in Damaskus wurde ich herumgereicht und gut vor der Geheimpolizei versteckt, bis man mich schließlich Richtung libanesischer Grenze brachte. Kurz vor dem Grenzposten ließ man mich aussteigen, aus dem Nirgendwo tauchte eine Gruppe bewaffneter Männer auf, und dann ging es direkt hinauf in die Berge, irgendwo offenbar über die Grenze, bis wir das Lager der PKK erreichten.

Eine Pistole zum Schutz

200 Kurden waren hier untergebracht, sie wurden ausgebildet – an den Waffen, in Geschichte und manche auch in Lesen und Schreiben. Die PKK strebte damals noch eine "Befreiung" des kurdischen Teils der Türkei an. Ich hatte eine Verabredung mit Öcalan, wusste aber nicht, wann er auftauchen würde, war mir auch nicht sicher, ob er überhaupt auftauchen würde. Eine Woche hatte ich mir Zeit genommen. Bei meiner Ankunft im Lager hatte man mir eine Pistole in die Hand gedrückt, zu meinem Schutz, wie man mir erklärte. Umgehen konnte ich damit nicht. Es dauerte fast eine Woche, bis Öcalan, den seine Anhänger Apo nannten, tatsächlich erschien. Er war plötzlich da.

Der Chef der PKK, Abdullah Öcalan, und der Autor vor einem Gebäude der "Akademie", einem Trainingslager für Guerilleros in der Bekaa-Ebene im Libanon.
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Das Interview war nicht einfach zu führen, da Öcalan keine Fragen gewohnt war. Üblicherweise hielt er Vorträge, denen man ergriffen lauschte. Ihn zu unterbrechen war schwierig. Es war 1990, und wir redeten schließlich über Gerüchte, wonach die irakischen Kurdenführer Jalal Talabani und Massoud Barzani mit den USA Geheimverhandlungen führten, um den irakischen Diktator Saddam Hussein zu stürzen. Mit diesen "feudalen Chauvinisten" und "Kollaborateuren" wollte Öcalan nichts zu tun haben. "Sie sind Verräter", sagte er, ihnen gehe es nur um ihre eigene Vormachtstellung.

Die PKK selbst konnte sich damals auf gut 3000 Guerilla-Kämpfer stützen, die meisten von ihnen waren in der Türkei, viele aber auch damals schon im Irak. Eine Zusammenarbeit mit den "imperialistischen Mächten", so erklärte Öcalan damals, käme für ihn nicht in Frage, auch dann nicht, wenn es darum gehe, Saddam Hussein zu stürzen.

Die Zusammenarbeit der PKK mit den USA kam erst Jahrzehnte später zustande: In Syrien waren Kämpfer der PKK maßgeblich am Kampf gegen den Islamischen Staat beteiligt, wurden von den USA unterstützt und ausgerüstet. Zu diesem Zeitpunkt saß Öcalan längst in einer Zelle auf der türkischen Gefängnisinsel IImrali im Marmarameer.

Warten in Beirut

Ich traf Öcalan im Juni 1993 ein zweites Mal zu einem Interview, wieder im Libanon, wo genau, ist mir selbst nicht bekannt. Ich reiste über Beirut ein, wo ich wiederum eine knappe Woche warten musste, ehe Kontakt mit mir aufgenommen wurde. In einer stundenlangen Autofahrt wurde ich ins Hinterland in ein Dorf zu dem Treffen mit Öcalan gebracht.

Apo, wie der Führer der PKK von seinen Anhängern genannt wird, bei einem Interview für den STANDARD im Jahr 1993. Seit mittlerweile 20 Jahren ist Öcalan in der Türkei inhaftiert.
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Im Südosten der Türkei waren zu diesem Zeitpunkt die Kämpfe zwischen türkischer Armee und PKK-Einheiten voll entbrannt. Öcalan warnte Touristen vor einem Urlaub in der Türkei und drohte mit Anschlägen in den türkischen Metropolen. Im Interview kündigte er den ohnedies nur noch theoretischen Waffenstillstand mit der Türkei auf.

Zu diesem Zeitpunkt wurde darüber spekuliert, dass die PKK rund 10.000 Männer und Frauen unter Waffen habe. Das "Haushaltsbudget" belief sich laut Öcalan auf hundert Millionen Dollar. Im Gespräch mit mir stellte Öcalan heftig in Abrede, dass je ein PKK-Mitglied auch nur mit einem Gramm Heroin etwas zu gehabt habe, die PKK finanziere sich ausschließlich über Spenden.

Auch Berichte über Schutzgelderpressungen seien nur "Propaganda der Türkei". Diese Themen überhaupt anzusprechen war keine Selbstverständlichkeit. Öcalan war gefürchtet.

Im Gespräch erwies er sich als intellektueller Geist, sehr gebildet, charismatisch, mit einer klaren Vision und einem Auftrag. Seine Anhänger verehrten ihn fanatisch, ein Umstand, der ihm selbst peinlich gewesen sei, wie er sagte, aber notwendig: Sein Volk brauche eine starke Führernatur.

Und die schien er zu sein. Er duldete keinen Widerspruch, wirkte jähzornig. Wenn er aufbrauste, donnerte seine Stimme. Der schwere Schnauzer erinnerte an Stalin, und wenn er seine dichten Augenbrauen hob, funkelten die Augen gefährlich. Öcalan glaubte an eine ideale Gesellschaft – die er zur Not auch mit Gewalt durchsetzen würde.

Entführt und verurteilt

Es war meine letzte Begegnung mit Öcalan. 1998 zog Syrien die schützende Hand über ihm weg, nachdem die Türkei mit Krieg gedroht hatte. Öcalan suchte in mehreren europäischen Staaten erfolglos um Asyl an – und war auf der Flucht.

Am 15. Februar 1999 wurde er in Kenia nach dem Verlassen der griechischen Botschaft vom türkischen Geheimdienst aufgegriffen, entführt und in die Türkei gebracht. Das Todesurteil wurde 2002 in lebenslange Haft umgewandelt. Im September 2016 bekam Öcalan auf der Gefängnisinsel Besuch von seinem Bruder Mehmet. Das ist derzeit der letzte bekannte Besuch. Die Anwälte von Öcalan haben ihn seit Januar 2011 nicht mehr gesehen.

Eva Juhnke, eine damals 28-jährige Deutsche, hatte sich 1993 der PKK angeschlossen und ging "in die Berge", wie der Weg in den bewaffneten Kampf umschrieben wurde. Als sie vom türkischen Militär gefangen genommen wurde, war sie allerdings unbewaffnet. Urteil: 15 Jahre Haft.
Foto: Matthias Cremer

Gegen Ende des Jahres 1993 hatte ich noch einmal Kontakt mit der PKK. Die zuvor mit den Kurden geknüpften Kontakte führten mich in den Iran, den Irak, nach Syrien und in die Türkei.

In den Bergen im iranisch-irakischen Grenzgebiet traf ich eine Gruppe von PKK-Guerilleros, aus der eine Person besonders hervorstach: eine junge Frau, größer als die anderen, blond, eine Kalaschnikow am Schulterriemen, am Gürtel zwei Handgranaten. Ihr Name war Eva Juhnke, sie wurde Kehni genannt.

Spontane Entscheidung

Die 28-jährige Deutsche aus Hamburg, die zuvor als Altenpflegerin gearbeitet hatte, hatte sich der PKK angeschlossen. Sie lernte Kurdisch und Bombenbauen. "Ich weiß, es klingt wie ein Witz, aber in Deutschland ist mir das Leben zu hart geworden", sagte sie im Gespräch mit mir. Ein kurdischer Freund hatte sie in Hamburg spontan gefragt, ob sie "in die Berge" mitkomme. Innerhalb einer Woche hatte sie sich entschieden.

"Kehni" schlief mit zehn anderen Frauen in einem Zelt, immer die Waffen bei sich. Nachts fror sie bitterlich, klagte sie. Aber sie konnte sich nicht mehr vorstellen, nach Deutschland zurückzukehren. "Es geht mir nichts ab", erzählte sie, "ich genieße die Solidarität und die Freundschaft." Noch nie habe sie so frei mit anderen Menschen reden können, noch nie habe sie so viel gelacht.

Vier Jahre später wurde Juhnke während einer türkischen Militäroperation im Nordirak gefangen genommen. Während der Untersuchungshaft sei sie Berichten zufolge gefoltert worden, im Prozess verteidigte sie sich selbst. Zum Ende ihres Plädoyers gab sie eine leidenschaftliche Erklärung ab: "Es lebe die Freiheit. Alle Völker sind Brüder. Hoch die internationale Solidarität. Es lebe die PKK. Es lebe der Genosse Parteivorsitzende Apo." Das Urteil im September 1998: 15 Jahren Haft.

Eva Juhnke hat die Haftstrafe in der Türkei abgesessen, mittlerweile ist sie wieder in Deutschland. Sie lebt zurückgezogen, gibt keine Interviews. Der PKK ist sie dem Vernehmen nach noch verbunden. Öcalan selbst dürfte sie nie begegnet sein. (REISETAGEBUCH: Michael Völker, 20.10.2018)