2. Mai 1989 im Niemandsland zwischen Nickelsdorf und Hegyeshalom – ungarische Soldaten beginnen damit, der tiefen europäischen Wunde die Fäden zu ziehen.

Foto: Robert Newald

Ein historischer Augenblick: der Anfang vom Ende des Alten. Wolfgang Weisgram posierte, Robert Newald fotografierte.

Foto: Robert Newald

September 2015 – bis zu 300.000 Menschen zogen über die Grenze. Das veränderte die grenzenlose Dreiländerregion erneut. An der Grenze wird seither wieder kontrolliert, das Bundesheer patrouilliert.

Foto: Robert Newald

Nickelsdorf liegt ein bisserl blöd. Direkt an der kontinentalen Hauptverkehrsader von und nach Südosteuropa. Irgendwo zwischen hier und dort also. Läge dieses 1800-Einwohner-Dorf nicht direkt an der Grenze, wäre es so bekannt wie – sagen wir – das benachbarte Jánossomorja oder das nahe Cunovo: also gar nicht.

So aber wird über Nickelsdorf zumindest en passant geredet. Buchstäblich im Vorbeifahren. Kommt Nickelsdorf allerdings in den Nachrichten vor, dann gewiss im Zusammenhang mit Unannehmlichkeiten oder gar Schreckensmeldungen. Nur in den geschulten Ohren der Jazzfans hat Nickelsdorf seit 1980 einen wunderbaren Klang, der herrührt von dem Hans Falb und seiner Jazzgalerie und den jährlichen Festivals.

1980 lag Nickelsdorf an einem echten Ende der Welt. Jedenfalls hatte ich diesen Eindruck, wenn ich von Wien nach Budapest fuhr. Ich tat das damals so häufig, dass ich die Reihenfolge der Orte an der B10 im Schlaf hersagen konnte wie Haltestellen an einer oft befahrenen Bahnstrecke: Parndorf, Neudorf, Gattendorf, Zurndorf, Nickelsdorf Ort, Nickelsdorf Grenze.

Wiener Magyarhilfer Straße

Im Frühling des Jahres 1989 trieb ich mich mit dem Fotochef des STANDARD, mit Matthias Cremer, ein paarmal in dieser Gegend herum. Wir folgten der Wiener Magyarhilfer Straße, wie man die Mariahilfer Straße der shoppenden Ungarn wegen auch genannt hat, bis zum burgenländischen Zubringer. Gattendorf, Zurndorf, Nickelsdorf – ein "áruház" neben dem anderen; meist nur ein Container.

Es folgte also einer gewissen Logik, dass mich am 2. Mai 1989 der STANDARD dorthin geschickt hat (oder jedenfalls nicht widersprochen hat, als ich mich darum gerissen habe). Robert Newald, der Fotograf, saß auf dem Beifahrersitz. Spätestens in Zurndorf war absehbar, dass wir uns sputen müssten. Beziehungsweise hätten sputen müssen. In Nickelsdorf Grenze wechselten wir tollkühn auf die Diplomatenspur und rechneten mit dem Schlimmsten.

Aber "Presse" war an diesem Tag das "Schibboleth" der Ungarn: ein Wort wie ein Pass. Wir wurden durchgewunken. Nicht einmal ein "adatlap", das umfangreiche Datenblatt, war auszufüllen an diesem Tag, der mir – und dem Robert Newald nicht minder – stets als ein Gnadentag erschienen ist: dabei sein zu dürfen, wenn Weltgeschichte anfängt zu passieren (denn so, erzählt uns Robert Musil, sagt der Österreicher, wenn man anderswo glaubt, es sei wunders was geschehen).

Eiserner Vorhang

Im Volksheim in Hegyeshalom verkündete das erodierend realsozialistische Ungarland in Gestalt eines Oberst Balázs Nováky, dass man nun die Damen und Herren von der nationalen und internationalen Presse hinausbitten werde ins Gelände, damit sie aller Welt verkünden, dass dem Eisernen Vorhang ab nun der Garaus gemacht werde. Diese "technischen Grenzsperren" wären veraltet. Und zwar – daran ließ der Oberst keinen Zweifel – sowohl als auch.

Draußen, im kalt-windigen Gelände, waren die Grenzsoldaten schon an der Arbeit. Der längst rostbefallene Stacheldraht wurde auf große Rollen gewickelt, schwere Kräne rissen die Betonpflöcke aus dem Boden. Vor allem die ungarischen Kollegen versuchten, Drahtstücke zu ergattern. Es schien, als wollten sie Beweisstücke sammeln, um ihren Augen auch später noch trauen zu können. Auch uns – Robert Newald und mir – schien es fast ein wenig zu schön, um wahr zu sein. Auf der Rückfahrt nach Wien versicherten wir einander ein ums andere Mal, dass wir wirklich gesehen und gehört haben, was wir gesehen und gehört haben.

Annus mirabilis

Und also begann das Annus mirabilis, das Wunder einer friedlichen kontinentalen Revolution, die den damals gewissermaßen noch in den Windeln liegenden STANDARD mitten hineingewirbelt hat ins Zentrum des Geschehens. (Ja, eh: des Passierens.)

Mich hat die Grenze – die den Kontinent so tief verwundet hat, dass einem die Schmerzen bis heute zuweilen den Alltag verdrießen können – nicht mehr losgelassen. Das lag nicht nur daran, dass ich mich bald darauf entschlossen habe, ein Burgenländer zu werden mit Haut und Haaren. Sondern auch daran, dass der STANDARD es sich nie hat nehmen lassen, immer wieder ein Platzerl freizumachen für Grenzgeschichten aller Art; elf Jahre lang, bis 2013, gab es mit "Crossover" sogar ein eigenes Ressort.

Auf der Suche nach solchen Geschichten verschlug es mich immer wieder nach Nickelsdorf, dem Gerhard Zapfl seit 1996 den Bürgermeister macht. Unlängst hab ich ihn wieder besucht. Wir haben die Zeit Revue passieren lassen, sind ordnungsgemäß ein wenig sentimental geworden, waren uns dann aber einig darüber, dass, wenn wir über dieses kleine, unscheinbare Nickelsdorf reden, immer auch über das große – in diesen großen Zusammenhängen oft scheinbare – Europa reden.

Schengenland

Zu erzählen gab es genug. Vieles davon findet sich im STANDARD-Archiv. Wie die Gemeinden im Dreiländereck sofort nach 1989 begannen grenzüberschreitend zusammenzurücken. Wie 1994 der Seewinkel und der Hanság zum grenzüberschreitenden Nationalpark verschmolzen. Wie in Heiligenkreuz der grenzüberschreitende Wirtschaftspark das südliche Dreiländereck wecken sollte. Grenzüberschreitend – das war ein schillerndes Modewort jener Tage, da sich in Nickelsdorf zum Beispiel ein Unternehmen angesiedelt hat, das ungarischen Schotter per Förderband über die B10 ins Schengenland transportierte.

2007 traten die Nachbarn dem Schengenabkommen bei. Das Wort grenzüberschreitend verlor seinen Zauberklang. Nun begann der Alltag. Nickelsdorf wurde zu einem Vorort von Bratislava. "Wir sind von 1500 auf 1800 Menschen gewachsen. Rund 150 Slowaken haben sich angesiedelt." Seit 2012 sitzt eine dieser Neunickelsdorfer für Zapfls SPÖ im Gemeinderat, kümmert sich um Integrationsagenden.

Die Normalität des sich einspielenden Grenzalltags schien so erzählenswert, dass der Robert Newald und ich uns 2014 – zum 25-jährigen Jubiläum – zusammenpackten und gemeinsam hinfuhren. Gerhard Zapfl organisierte einen Ausflug zum Kollegen nach Hegyeshalom. Die Zukunft der Gegend schien den Bürgermeistern und uns recht klar: endlich pomali. Die Grenzgebäude des einst frequentiertesten Schengenübergangs standen nur deshalb noch, weil keiner sich die Mühe machen wollte, sie abzureißen.

Migrationsbewegung

Ein Jahr später war alles wieder anders. "Wir haben die Migrationsbewegung schon im Frühjahr gespürt. In der Nova-Rock-Halle waren schon vorm Sommer die Menschen untergebracht." Dann der 27. August 2015. Die 71 Toten wurden in der alten Veterinärhalle am Grenzübergang aus dem Lkw geholt. Dann der Herbst.

Bis zu 300.000 Menschen zogen zwischen 5. September und 17. Oktober durch. Am 11. September waren es so viele, dass die Transportkapazitäten nicht mehr reichten. "Plötzlich irrten 10.000 durch den Ort." Gerhard Zapfl rief um Hilfe. "Ich hab bei Werner Faymann angerufen. Die Sekretärin hat gesagt: Der Kanzler ist nicht zu sprechen. Aber ich hab ja gemerkt, der steht daneben." Freunde wurden die Parteifreunde keine mehr.

Mittlerweile patrouilliert wieder das Bundesheer. Auf der Autobahn wird kontrolliert. Ab und zu kann man den Namen Nickelsdorf wieder im Radio hören. Nicht nur Gerhard Zapfl ist froh, wenn es dann nur der Verkehrsfunk ist. (Wolfgang Weisgram, 19.10.2018)