1. Karriere eines Kampfbegriffs

Vielleicht werden Mentalitätshistoriker eines Tages feststellen, dass mit Donald Trump in den USA, mit Heinz-Christian Strache in Österreich und Horst Seehofer, seines Zeichens Bundesinnenminister in Deutschland, eine neue Epoche begann. Man könnte sie die Zeit des großen Verdachts nennen, die Ära der entfesselten Pseudoskepsis, die von den Rändern der Gesellschaft in Richtung der Regierungsmacht gewandert ist. Der amerikanische Präsident hat den Ausdruck Fake-News als Kampfbegriff zur Diffamierung der New York Times fest etabliert. Heinz-Christian Strache hat ihn bekanntlich für die Attacke auf den ORF und ZiB 2-Moderator Armin Wolf eingesetzt. Horst Seehofer war es, der – gefragt nach seinem so offenkundig zerrütteten Verhältnis zu Angela Merkel – verlauten ließ, es gebe "immer mehr Falschmeldungen". Und weiter: "Wir müssen nicht nach Russland schauen. Die meisten Fake-News werden in Deutschland produziert, von Medien wie von Politikern."

Collage: Der Standard

Was diese drei Männer verbindet, ist die Instrumentalisierung des Totalzweifels, um sich einem ohnehin journalismuskritischen Milieu anzubiedern. Was sie – darüber hinaus – zu traurigen Trendsettern macht, ist die Tatsache, dass sie eine Art der geistigen Bündnispolitik mit Medienverdrossenen betreiben, also eine pauschale, auf Demontage und nicht auf Verbesserung zielende Kritik des Journalismus schon aufgrund ihres Amtes adeln. Und schließlich wird an ihrem Beispiel deutlich, dass der Begriff Fake-News, eigentlich eine Bezeichnung für bewusst gefälschte Netznachrichten, analytisch weitgehend wertlos geworden ist.

Minenfeld

Und doch muss man, wenn man das tagespolitische Minenfeld verlässt, anerkennen, dass Desinformation unter den aktuellen Kommunikationsbedingungen an Macht gewonnen hat und sich im Feld der Falschnachrichten inzwischen ganz unterschiedliche Akteure und Gruppen tummeln.

Da sind zum einen diejenigen, die aus politisch-ideologischen Gründen agitieren, also Propaganda verbreiten, um ihre eigene Position oder Partei zu stärken – ganz gleich, ob es um den Brexit oder die Annexion der Krim geht. Da sind zum anderen jene, die – ohne propagandistische Absicht – satirisch gemeinte Scherze in Umlauf bringen, die aber nicht notwendig als solche erkannt werden.

Da entdeckt man die Gruppe der kühl Rechnenden, die möglichst schnell viel Werbegeld mit selbstproduzierten Falschnachrichten verdienen wollen, also vor allem daran interessiert sind, Aufmerksamkeitsgewinne unmittelbar in Bargeld umzumünzen. Und schließlich liefert man auch in den Boulevard- und Schmuddelecken des Journalismus jede Menge fahrlässiger Inszenierungen, Fakes und Fiktionen aller Art. Man denke nur an die tägliche Nonsensproduktion der Promi- und People-Publizistik, die sich an jedem Kiosk finden lässt.

"An Tankstellen oder Supermarktkassen wird mir manchmal schwindlig, wenn ich auf den Titelseiten sehe, welche Seelenqualen ich mal wieder durchlebt haben soll", hat der Schlagersänger Florian Silbereisen einmal seine Lektüreerlebnisse in eigener Sache bilanziert. "Jede Woche erscheinen dutzende Klatschblätter mit neuen Dramen über mich. Meist ist es Gott sei Dank aber so, dass meine Trennung in dem einen Blatt durch meine Hochzeit in dem anderen Blatt wieder aufgehoben wird."

2. Die Deregulierung des Wahrheitsmarktes

Allerdings: Der Blick auf besonders schrille und schräge Fake-News – Barack Obama ist kein Amerikaner, der Papst empfiehlt die Wahl von Donald Trump, Hillary Clinton führt einen Pädophilenklub in Washington, getarnt als Pizzeria – verdeckt, dass diese eigentlich vor allem eines sind: Schaumkronen auf dem Meer der vernetzten Welt, Symptome der Oberfläche.

In der Tiefe geht es um eine tektonische Verschiebung der Informationsarchitektur, die Neuordnung der Welt- und Wirklichkeitsbezüge im digitalen Zeitalter, die sich nur systemisch erklären lässt, als ein Zusammenspiel der unterschiedlichsten Faktoren. Generell zeigt sich, dass der klassische Qualitätsjournalismus schon deshalb an Deutungsautorität verliert, weil sich nun jeder – barrierefrei – an die Öffentlichkeit wenden kann und auch Nachrichten in entbündelter, granularisierter Form verstärkt in sozialen Netzwerken konsumiert werden. Das heißt, dass der Journalismus die Hoheit über die eigenen Vertriebskanäle zu verlieren droht.

Minenfeld

Und es bedeutet, dass sich Journalisten – neben dem eigentlichen Publikum – im Kampf um eine naturgemäß knappe Aufmerksamkeit zunehmend an den intransparenten Prinzipien algorithmischer Informationsfilterung orientieren müssen, die man dann nach dem Muster von Versuch und Irrtum bedient. Die primär senderseitige Relevanzsetzung – "Wir zeigen, was wichtig und wahr ist!" – verliert damit unvermeidlich an Kraft, weil durch Klickzahlen und Echtzeitquoten unabweisbar wird, dass sich Menschen womöglich vor allem für einen unheimlich wirkenden Riesentintenfisch in einem japanischen Hafenbecken interessieren, nicht jedoch für den zeit- und kostenintensiv recherchierten Bericht über die gerade aktuelle Konfliktdynamik im Nahen Osten.

Überdies wird die Idee der einen Öffentlichkeit endgültig zur Fiktion, weil sich heute jeder empfängerseitig Wunschöffentlichkeiten konstruieren und sich in sein eigenes Selbstbestätigungsmilieu hineingoogeln kann. Und grundsätzlich betrachtet gilt: Information lässt sich, einmal digitalisiert, in immer neue Kontexte transferieren, kombinieren, wunschgemäß entlang der eigenen Perspektive arrangieren. Der Einzelne kann sich seine eigene Echokammer zusammenbasteln, ganz nach Bedarf für seine Gewissheiten Belege finden. Das Netz, dieses ungeheuer plastische Medium, kommt der allgemein menschlichen Bestätigungssehnsucht sehr weit entgegen.

Kurzum: Was in der Summe offenbar wird, ist eine Deregulierung des Wahrheitsmarktes (eine Formulierung des Netztheoretikers Michael Seemann), die die erlebbare Fraglichkeit des Wissens und die aktuelle Fake-News-Panik in ihren Tiefendimensionen verstehbar macht.

3. Vom Umwelt- zum Öffentlichkeitsbewusstsein

Wie ist diese Deregulierung zu bewerten? Die bestenfalls ambivalente Antwort lautet: Sie besitzt ein Doppelgesicht. Denn zum einen sind wir – das ist die gute Nachricht – mit einer Welt des Informationsreichtums konfrontiert, erleben eine gigantische Öffnung des kommunikativen Raumes, die es auch gerade noch Unterdrückten und Marginalisierten erlaubt, ihre Stimme zu erheben, entsetzliches Unrecht blitzschnell bekannt zu machen. Zum anderen wird die öffentliche Sphäre geflutet mit Hass und Propaganda, denn nun kann jeder, einen Netzzugang vorausgesetzt, ohne größere Unkosten Gewaltdrohungen und Falschnachrichten in die Erregungskreisläufe des digitalen Zeitalters einspeisen. Wie also damit umgehen?

Vielleicht eine persönliche Schlussbemerkung: Aus meiner Sicht steckt in der gegenwärtig laufenden Medienrevolution ein großer, gesellschaftlich noch gar nicht verstandener Bildungsauftrag. So, wie in den 1970er-Jahren das Umweltbewusstsein entstanden ist als Reaktion auf die Verschmutzung der natürlichen Umwelt, bräuchte es heute eine Art Öffentlichkeitsbewusstsein als Reaktion auf die Vermüllung der publizistischen Außenwelt.

Man müsste schon in den Schulen ein Bewusstsein dafür wecken, warum unabhängiger Journalismus in einer Demokratie absolut systemrelevant ist, was überhaupt eine seriöse Quelle darstellt und wie irrtums- und ausbeutungsanfällig Menschen unter den gegenwärtigen Medienbedingungen sind. Ob es so kommt? Ob also schon übermorgen in Schulen und Hochschulen das Leitfach einer digitalen Ökologie zu finden sein wird? Ich wäre sehr gerne optimistisch. Aber wer sich im Flachland einer nach wie vor weitgehend technokratisch und floskelhaft geführten Medien- und Bildungsdebatte bewegt, wird die Frage, ob getan werden wird, was nötig wäre, unvermeidlich mit einer großen Portion Skepsis beantworten. (Bernhard Pörksen, 19.10.2018)