Beim näheren Hinsehen auf das apodiktische Ja oder Nein erscheint das eine oder andere nicht mehr ganz so klar. Dazu verhilft der Widerspruch – vor allem der gegen sich selbst.

Illustration: Armin Karner

"One of the most salient features of our culture is that there is so much bullshit."
Harry G. Frankfurt, "On Bullshit", 2005

1. Keine Frage, der Standpunkt bestimmt die Perspektive. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass sich von ein und demselben Standpunkt aus beliebig viele Perspektiven einnehmen ließen. Denn das meiste, was Menschen wahrzunehmen vermeinen, entspricht schlechterdings nicht den Tatsachen. Vielmehr ist es schlicht Humbug – oder eben Bullshit, wie Herr Frankfurt in seinem so schmalen wie lesenswerten Buch schreibt.

Ohne jeden Zweifel: Wir leben in einer Bullshit-Welt. Und es geht uns hervorragend dabei. Denn formuliert "man keine Thesen mehr, die eine Antithese provozieren, sondern vertritt Meinungen", wie Konrad Paul Liessmann auf Seite 97 dieser feinen Publikation trocken feststellt, ist man stets – auch im Widerspruch – auf der sicheren Seite.

Der Vorteil ist: In der Axiomatik der Gefühligkeit lässt sich allerhand deduzieren. Dabei muss sich niemand mit Wahrhaftigkeit oder gar Wahrheit aufhalten oder sich womöglich in Erkenntnis- und Wahrheitstheorien verheddern. Warum auch? Gibt es doch massenweise Befindlichkeiten und Meinungen, die gemütlich unbegründet bleiben können, weil es angeblich keinerlei objektivierbare Sachverhalte gibt.

Über Denkgesetze

Die Logik mag vier Denkgesetze kennen (den Satz der Identität, den Satz vom Widerspruch, vom ausgeschlossenen Dritten und vom zureichenden Grund). In der Bullshit-Welt reicht es im Gegensatz dazu aus, vorwiegend mit sich selbst eins zu sein. Daraus ergibt sich unter anderem ein unübersehbarer Wust an hyperpersonalisierten Identitätspolitiken, in denen auch farbige, einbeinige, homosexuelle Bergbauern mit Migrationshintergrund und Origami als Hobby vermeinen, ihre Lebenswelt zur Grundlage einer allgemeinen Ordnung machen zu dürfen. (Lesetipp: Einen erhellenden Essay des US-amerikanischen Politologen Francis Fukuyama zu diesem Thema hat der STANDARD in der Wochenendausgabe vom 13. Oktober 2018 abgedruckt).

Ein gewisser Karl Marx, dessen Geburtstag sich heuer zum 200. Mal jährte, wollte seinerzeit die Dinge "vom Kopf auf die Füße stellen". Heute allerdings ist der Kopf vom müffelnden Odeur des Materialismus dermaßen betäubt, dass er seiner ersten und wichtigsten Aufgabe scheinbar nicht mehr nachzukommen imstande ist.

"Etwas ist also lebendig, nur insofern es den Widerspruch in sich enthält, und zwar diese Kraft ist, den Widerspruch in sich zu fassen und auszuhalten."
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, "Wissenschaft der Logik, Band II", 1816

2. Die nobelste Kulturtechnik, die sich über die Jahrhunderte im rationalistisch geprägten Europa etabliert hat, ist das Zivilisieren, ja das Urbarmachen des Widerspruchs. Er wird kultiviert, weil der Erkenntnisgewinn sein Zweck ist. Hegel beschreibt die "Selbstbewegung des Geistes" mit dem Dreischritt aus These, Antithese und Synthese. Seine Dialektik meint es ernst. Rechthaberei, Spitzfindigkeiten und intellektualisierendes Gschaftlhubern sind darin nicht besonders gut aufgehoben. Genauso wenig ist es der polemische Streit. Ohne Streit mag keine Gesellschaft gedeihen, schiere Polemik allerdings gräbt ihr das Wasser ab.

Wert des Widerspruchs

Der Widerspruch, er beinhaltet die Kontradiktion, den Antagonismus und den Einspruch – also mindestens drei Bedeutungen, die es zu unterscheiden gilt. Der Widerspruch verträgt außerdem keine Orthodoxie und keine festgefügten Narrative. Das müssten alle, die sich – zu Recht! – einbringen, einmischen und mitgestalten wollen, bedenken. Denn der Widerspruch ist kein Wert per se, er lebt im doppelten Wortsinn davon, aufgehoben zu werden. Erst dann geht etwas weiter (siehe die "Selbstbewegung des Geistes"), erst dann ist "etwas" auch "lebendig".

Das mag mit leichter Hand hingeschrieben sein. Schwierig wird es dann, wenn Folgerichtigkeit, Konsistenz und ein Mindestmaß an intellektueller Rechtschaffenheit die Geschäftsgrundlagen der Debatte sind. Widerspruch kann wehtun, vor allem einem selbst. Er zwingt dazu, näher hinzusehen, noch einmal draufzuschauen auf das apodiktische, festgezurrte Ja und Nein. Geh bitte! Muss das sein? Ja, es muss. Punkt.

"I gfrei mi, wenn's regnet. Denn wenn i mi net gfrei, regnet's auch."
Karl Valentin, Komiker und größter Philosoph, den Bayern je hervorgebracht hat

3. Das schöne an der Theorie ist unter anderem, dass es auch eine Praxis dazu gibt. Da mag sich einer noch so sehr über die Geschmeidigkeit des Allerweltsstreites und die in der guten Stube des digitalen Biedermeiers servierte intellektuelle Hausmannskost echauffieren, es nützt ja nichts, das Leben geht weiter. Und es treibt seltsame Blüten, die es zu sammeln und zu einem bunten Strauß zu winden gilt. Zwischen den Disteln Kickl'scher Bedrohung der Pressefreiheit mag es – um einen aktuellen Fall zu zitieren – dabei beispielsweise auch Zierhalme journalistischer Selbstverliebtheit und eines oft erstaunlichen Drangs zur publizistischen Selbstbefriedigung geben.

Das bedeutet allerdings nicht, dass Widerspruch – auch echter Widerspruch – eine Übung in Vergeblichkeit sei. Es bedarf seiner, auch wenn er vorderhand nichts ändert. So viel Freiheit muss sein – für den Widerspruch und den Widersprecher. (Christoph Prantner, 19.10.2018)