Artikel: In der Gründungszeit des STANDARD waren die Journalisten noch vielfach daran gewöhnt, ihre lichtvollen Artikel auch wirklich zu Papier zu bringen. Die maschinengeschriebenen Zettel wurden an Sekretärinnen weitergereicht. Diese verkörperten, mit Hegel gesprochen, den Weltgeist. Auch in stürmischen Zeiten schienen sie mit unverwüstlich guter Laune gesegnet. Ihre wichtigste Aufgabe bestand darin, wohlschmeckenden Kaffee zuzubereiten und ihn brühheiß den Ressortleitern zu kredenzen. Die einlangenden Typoskripte mussten sie ob der vielen Übermalungen erst mühsam entziffern. In den ersten Computerprogrammen sahen die Artikel am ehesten wie Marschsäulen antiker Heeresverbände aus. Aber damals waren Artikel ihrem Inhalt nach auch noch besonders streitbar.
Bebilderung: In den Bleiwüsten des gründungsfrischen STANDARD wurde die Notwendigkeit, Schwarzweißfotos einzurücken, eher widerwillig zur Kenntnis genommen. Passenderweise schien ein Gutteil der damaligen Akteure auf der Weltbühne ohnehin ein eher schwarzweißes Dasein zu fristen. Man denke an sowjetische Politbüromitglieder oder an die Spitzen des heimischen Gewerkschaftsbundes. Heute werden die knallbunten Bilder immer kühner angeschnitten. Manchmal weiß man gar nicht mehr, wo eigentlich die Bebilderung aufhört und schon der Artikel anfängt.
Chefredaktion: Im unverzichtbaren Walten einer Chefredaktion halten Elemente der Autokratie mit den Kräften der Partizipation und des Fortschritts die perfekte Balance. STANDARD-Chefredakteure verfügen über das kostbarste Gut des Journalisten: die Fähigkeit zum kindlichen Staunen. Sie wollen einfach nicht hinnehmen, dass dort, wo etwas ist oder womöglich gleich passieren wird, tatsächlich nur die Unscheinbarkeit regiert. Sie fischen aus dem Wust der Alltäglichkeiten diejenige Tatsache heraus, die das Zeug zur unerhörten Begebenheit hat. Sie sind Entdecker und kommen, als solche, noch vor den Erfindern.
Dachzeile: Sie steht über manchem, besonders umfassend angelegten STANDARD-Artikel. Die Dachzeile bildet das Äquivalent zum Firmenschild, das über der Auslage eines seriösen Geschäfts hängt. Am gemächlichen Hinfließen der Dachzeile wurde in den vergangenen 30 Jahren das Dilemma der Doppelseite bemerkbar. Die Dachzeile zwingt heterogene Texte unter ihr formschönes Joch und tendiert dazu, unabschließbar zu sein.
Einspalter: Er stellte einst das Exerzierfeld dar, auf dem sich angehende STANDARD-Journalisten zu bewähren hatten. In seine schlanke Form gossen Nachwuchskräfte den süßen Honigseim der Agenturmeldungen. In der planvollen Anbahnung von wohltuender Kürze, hieß es früher, beweise sich wahre Gestaltungskraft.
Freistellen: Wer ein Fotomotiv seines störenden Umraums entkleidet, hilft der Wahrheit garantiert auf die Sprünge.
Inserat: Von klobiger Form, erweist es sich als der natürliche Feind jedes zu druckenden journalistischen Beitrags. Die Tücke des Inserats besteht in seiner Zweiwertigkeit. Was es dem STANDARD-Journalisten an Platz wegnimmt, erstattet es dem Verlag in Form von gutem Geld um ein Vielfaches zurück. Im STANDARD führen Inserate ein Eigenleben: Anders als in anderen Medien haben sie keinen Einfluss auf die nebenstehenden Artikel.
Korrektorat: Das Gerücht, dass es im gedruckten STANDARD den einen oder anderen Tippfehler zu bestaunen gebe, hält sich so lange, wie es diese Zeitung gibt. Es kann als maßlos übertrieben bezeichnet werden, schon weil das firmeneigene Lektorat von unbeirrbarer Akribie ist und den Widerstand verstockter Redakteurinnen ("Ich will es aber so haben ...") verbissen niederringt. Bis an die Zähne mit dem Duden bewaffnet, trieben Schreiber und Lektoren gemeinsam auf dem schwankenden Floß der Sprache durch diverse Rechtschreibreformen.
Leser: Um ihn, den ominösen Adressaten der STANDARD-Bemühungen, ranken sich zahlreiche Gerüchte. Als Personen von erlesenem Geschmack gelten die Leserin, der Leser als sozialempirisch gut erfasst bis von der Marktforschung restlos durchleuchtet. Zum STANDARD greifen sie, weil sie den Begriff der Liberalität als Anleitung verstehen. Die Zeitung bildet jeweils die Probe aufs Exempel. Journalismus wäre diejenige Praxis, die sorgsam abwägt, ehe sie Tatsachen, von deren Zustandekommen sie wahrheitsgemäß berichtet, einer allfälligen Bewertung unterzieht.
Pressekonferenz: Sie gilt als Urmutter der Wissensbeschaffung. Der äußeren Form nach ähnelt sie dem Frontalunterricht in den Schulen. Wer eine Pressekonferenz abhält, ist paradoxerweise bemüht, sein Anliegen so umfassend wie nötig und so beredt wie möglich darzustellen. Die gute, alte Technik des Nachfragens basiert also auf einer kognitiven Diskrepanz. Diejenigen, die verlautbaren, bringen das, was ihnen am Herzen liegt, nicht deutlich genug vor die Leute. Der STANDARD-Reporter ist der temporäre Erfüllungsgehilfe, der das Erkenntnisinteresse seiner Leserinnen sich unbedingt zu eigen macht. Dazu werden meist Filterkaffee und lauwarmer Orangensaft gereicht.
Qualität: Sie ist nichts an sich Gegebenes; sie macht sich auch umso rarer, je vertrauteren Umgang man mit ihr zu haben meint. Qualität kann unter Umständen darin bestehen, der Meinung der geneigten Leserinnen und Leser von vornherein zu widersprechen. Schlimmstenfalls hat man sich dann geirrt und wird von den "Postern" unter den "Usern" gemaßregelt.
Sexismuskasse: In sie zahlten während langer Jahre STANDARD-Journalisten bedeutende Obuli ein. Die Verpflichtung zum Erlag eines Euros resultierte aus dem Führen loser Reden, die dazu geeignet schienen, den Anspruch auf Wahrung weiblicher Integrität zu verletzen. Aus dem Zusammenlegen der einzelnen Bagatellbeträge erwuchsen hübsche Sümmchen.
Textchef: Jede Minorität genießt das Privileg besonderer Schutzwürdigkeit. Warum sollte da nicht auch der journalistische Text, dieses struppige, verwilderte Kind des Logos, die Fürsprache durch einen eigens für seine Bedürfnisse bestallten Ombudsmann genießen dürfen?
Unbeugsamkeit: Sie resultiert aus einer unbedingt vertikalen Haltung. Die nimmt die STANDARD-Journalistin ein, um sich des aufrechten Gangs zu befleißigen.
Wochensitzung: Um ihretwillen taugt der STANDARD-Mitarbeiter zum Brückenbauer. Wie er das schafft? Indem er zwischen den Anforderungen des Tages und den Erfordernissen der Überzeitlichkeit vermittelt. Alles, was sich aussagen lässt, kann man auch so sagen, dass es morgen noch gültig ist. Ist irgendwann einmal das letzte lachsrosa STANDARD-Zeitungsblatt vergilbt, so wird man doch die Tugenden von Courage und Unvoreingenommenheit nicht entbehren können.
Zeitung: Sie knistert. Sie schwärzt. Das Rosa verwandelt sich unter Sonnenbestrahlung und wird aprikosengelb. Die Zeitung nimmt die Farbe der Morgenröte an.
(Ronald Pohl, 19.10.2018)