Wie man einen Spielfilm im Kino erlebt, hängt immer auch davon ab, unter welchen Umständen man diesen wahrnimmt. Bestenfalls wird diese Wahrnehmung zum Erlebnis.

In der argentinischen Filmserie La Flor funktioniert das folgendermaßen: Mit jedem Kapitel, das hier aufgeschlagen wird, erwartet das Publikum eine neue Überraschung. Aber keine, wie man sie aus einschlägigen TV-Serien kennt, sondern eine solche, die das Zuschauen – und das Zuhören! – selbst zum Thema macht. Die gespannte Erwartungshaltung löst sich in La Flor jedenfalls nicht auf, sondern dauert knapp 14 Stunden lang – und über dessen Ende hinaus.

Das Virus, das in Episode eins die Mitarbeiterinnen eines Labors dahinrafft, ist zum Glück ein anderes als jenes, von dem man als Zuschauer erfasst wird: "La Flor" ist ansteckend!
Foto: Viennale

Zehn Jahre hat Mariano Llinás an seinem Epos gearbeitet, das auf der Viennale in drei Teilen zu sehen ist (die Acht-Blöcke-Fassung für ebenso viele Tage, wie sie auf Festivals bereits zu sehen war, verstärkt die Wirkung zusätzlich). Doch ob drei Teile, sechs Episoden oder acht Blöcke: Llinás' großer Trumpf ist ein formidables Quartett, wie man es seit langem nicht mehr auf der Leinwand gesehen hat. Elisa Carricajo, Valeria Correa, Pilar Gamboa und Laura Paredes spielen in jeder Episode, die sich auf ein anderes klassisches Genre bezieht, eine ebenso andere Rolle, was sich als so verstörend wie fantastisch erweist.

Labyrinthische Pfade

La Flor beginnt als Horrorfilm, wobei sich der Schrecken, den die Mumie, die im Niemandsland ausgegraben und in einem Labor untergebracht wird, direkt über die Körper der Menschen fortpflanzt. Doch bereits hier unterwandert Llinás die gängigen Topoi des Genres, indem er sich diese für sein eigenes Spiel zunutze macht. Schwarze Katzen, ein bestialisches Virus und eine zur Hilfe herbeizogene Beschwörerin sorgen weniger für Nervenkitzel als für pure Lust an dieser Konstellation und am Wiedererkennen von Verweisen und Zitaten. Und kaum hat man sich (un)gemütlich eingerichtet, wird man mit dem nächsten Teil in ein Eifersuchtsmelodram katapultiert, in dem das klassische Hollywoodmusical mit bestechenden Gesangsnummern durchschimmert – und erste Spuren für die nächsten Episoden gelegt werden.

Trailer zu "La Flor".
Filmgarten

Es wäre an dieser Stelle wenig sinnvoll und unzweckmäßig, die weiteren Erzählungen zu verraten, nur so viel: ein Entführungsthriller im Kalten Krieg mit Schauplätzen in Europa und Südamerika, ein Heimkehrerinnenwestern oder ein Kostümfilm, in dem die Kostüme zur Enthüllung werden, bilden den labyrinthischen Pfad, mit dem Llinás' Landsmann Borges seine Freude gehabt hätte. Langsam wachsen sich die gelegten Spuren zu ineinander verwobenen Geschichten aus.

Apropos wachsen: Warum La Flor diesen Titel trägt, zeigt sich, als Llinás, an einer verlassenen Raststätte sitzend, die Erzählstränge seines Films in ein kleines Notizbuch kritzelt: Wie bei einer Blume wuchern vier Linien nach oben, rundet sich die fünfte zu einer Art von Knolle und bildet die sechste einen Stängel.

Das serielle Erzählen im Kino, das als Kunstform bis zu den Ursprüngen der Kinematografie zurückreicht, erlebt mit La Flor jedenfalls eine neue Blüte. Ein Glück, dass es noch Möglichkeiten gibt, ein solches Aufblühen zu bestaunen. (Michael Pekler, 20.10.2018)