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Die britische Premierministerin Theresa May will einen "No deal"-Brexit vermeiden, denn die Folgen könnten verheerend sein.

Foto: AP/Alastair Grant

Premierministerin Theresa May zeigt sich immer noch zuversichtlich, eine Lösung für den Austritt der Briten aus der EU zu finden. Dennoch hat ihre Regierung in Vorbereitung auf den Chaos-Brexit ("no deal") eine Reihe von Arbeitspapieren herausgegeben. Das Brexit-Ministerium folgt damit der EU-Kommission in Brüssel, auf deren Website derzeit 70 "Mitteilungen zur Vorbereitung auf den Brexit" abrufbar sind, wie es in sachlicher Sprache heißt.

Dahinter verbergen sich besorgniserregende Fakten. So könnten Airlines mit lediglich britischer Betriebsgenehmigung von Ende März 2019 an nicht mehr in den europäischen Luftraum fliegen. Sich einfach als europäisches Unternehmen umzuwidmen, wie es der Billigflieger Easyjet mit einem Tochterunternehmen in Wien versucht hat, ist gar nicht so einfach: Denn laut Vorgabe der EU-Kommission muss dafür ein Luftfahrtunternehmen zu mindestens 50 Prozent EU-Aktionären gehören.

Die britische Autobahnbehörde sperrt in den kommenden Wochen jeweils für einige Stunden die Autobahn M20 von London nach Folkestone und Dover am Ärmelkanaltunnel für Bauarbeiten: Ein 20 Kilometer langer Abschnitt soll bei Bedarf in einen riesigen Lastwagenparkplatz verwandelt werden können. Selbst wenn jede Kontrolle zukünftig nur zwei Minuten länger dauern sollte, so haben Transportexperten errechnet, würden sich die Fahrzeuge auf beiden Seiten des Kanals binnen weniger Tage dutzende Kilometer lang stauen.

Lebensmittelkrawalle?

Den Containerhafen Dover passieren jährlich 2,6 Millionen Lastwagen, 120-mal pendeln Fähren täglich nach Calais. 30 Prozent des Nahrungsmittelbedarfs importiert Großbritannien aus der EU. "Alles beruht auf 'just in time', um die Lagerkosten niedrig zu halten", erläutert der Logistikexperte Tim Reardon. Im Umfeld der Nordseehäfen gibt es "kaum noch Warenlager mit Kühleinrichtungen", weiß auch Adam Marshall von der britischen Handelskammer. Probleme mit der Lebensmittel- und Medikamentenversorgung könnten Krawalle zur Folge haben – diese Vorhersage wagte vor wenigen Wochen der britische Chef des US-Giganten Amazon, der 25.000 Mitarbeiter auf der Insel hat.

Auch die Prognosen ernstzunehmender Volkswirtschafter lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Ihnen zufolge würden große EU-Mitglieder wie Deutschland und Frankreich Einbußen von bis zu einem Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts erleiden, wenn der Handel mit der siebentgrößten Volkswirtschaft der Welt kompliziert oder gar zeitweise abgeschnitten würde. Der anglo-irische Handel könnte im schlimmsten Fall sogar um ein Fünftel schrumpfen. Großbritannien selbst droht laut Gutachten ein katastrophaler Konjunktureinbruch von bis zu vier Prozent. Das renommierte Finanzinstitut IFS sieht ausgerechnet jene Bevölkerungsgruppe als Verlierer, die besonders begeistert für den Brexit gestimmt hat: jene der ungelernten Arbeiter mit Hauptschulabschluss.

Auf der Insel beschäftigt die Automobilbranche direkt und indirekt mehr als eine Million Menschen, und sie exportiert über 80 Prozent ihrer Produkte – davon mehr als die Hälfte in die EU. Umgekehrt kaufen die Briten zwei Drittel ihrer Neuwagen vom Kontinent, weshalb auch die 27 EU-Partner an einer Lösung interessiert sein sollten, erläutert die Autolobby SMMT.

Alle Prognosen zum Chaos-Brexit beinhalten einen hohen Unsicherheitsfaktor, manche Expertisen wirken wie veritable Gruselgeschichten, die den Verhandlern wohl einen Kompromiss nahelegen sollen. Denn die unterkühlte Formulierung des Thinktanks UKCE ist schwer zu bestreiten: Für Unternehmen und Konsumenten wäre der Chaos-Brexit "ganz überwiegend negativ". (Sebastian Borger aus London, 19.10.2018)