33 Jahre und skrupellos: Kronprinz Mohammed bin Salman. Dass Jamal Khashoggi die Gefahr nicht sah, zeigt, wie sehr sich Saudi-Arabien unter MbS geändert hat.

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Der 30. Geburtstag des STANDARD wäre im Zusammenhang mit dem Kriminalfall Jamal Khasoggi ein guter Anlass, in unserem Archiv ausheben zu lassen, wie viele Artikel über Saudi-Arabien, über die internen Verhältnisse im wahhabitisch-salafistischen Königreich, vor etwa zwanzig Jahren geschrieben wurden. Vermutlich so gut wie keine. Sand, Öl, Scheichs – und Stillstand. Nicht viele haben sich dafür interessiert. Die Zeiten haben sich geändert. Beim großen Fest, das der STANDARD am Donnerstagabend feierte, wurde die Nahostredakteurin laufend darauf angesprochen. Wie konnte der Insider Jamal Khashoggi nur so leichtsinnig sein, ins Generalkonsulat in Istanbul zu gehen? Denn wie Saudi-Arabien sei, das wisse doch jeder ...

Erklärvideo: Wer ist "MbS"?
DER STANDARD

So einfach ist es eben nicht. Jamal Khashoggi, 59, der wieder heiraten wollte und dafür Papiere brauchte, ist bestimmt nicht gerne zu den saudischen Behörden gegangen. Aber er hatte sicher auch nicht die entfernteste Vorstellung davon, was ihn erwartete. Er hatte die Politik von Kronprinz Mohammed bin Salman (MbS) kritisiert, aber nie die saudische Monarchie infrage gestellt. Er war eine öffentliche Figur, er hatte – wohl bis zum letzten Moment – gute Verbindungen zu Mitgliedern des Königshauses. Er gehörte auch nicht direkt zur Familie: Dass Prinzen "verschwinden", die Ärger machen, kommt nicht oft, aber doch vor.

Das heißt: Nicht einmal Jamal Khashoggi hatte die Komplexität, den Mechanismus der Veränderungen begriffen, die in Saudi-Arabien vor sich gehen, seit der heute 33-jährige Lieblingssohn von König Salman im Juni 2017 Kronprinz wurde. Es ist eine Kombination zweier völlig unterschiedlicher Ansätze: wirtschaftliche und soziale Reformen und Projekte, die unter dem Einsatz von Milliarden Dollar für Lobbying und PR – Public Diplomacy nennt sich das – weltweit in die Öffentlichkeit geblasen werden. Auf der anderen Seite: Repression, harsche Bestrafung jeglicher Kritik, egal ob sie von Liberalen oder von Konservativen kommt. Und alleine das zeigt, dass Saudi-Arabien eben nicht so ist, wie es immer war: MbS legte sich auch mit dem "normalen" konservativen religiösen Establishment an, der zweiten Säule des Staates neben dem Hause Saud.

Wunderwuzzi und Rechtsstaat

Das gefiel vielen, innen und außen. Der Wunderwuzzi packte an. Als MbS im November 2017 – ein paar Stunden, nachdem er sich zum Chef der neuen Antikorruptionsbehörde ernannt hatte – mit den Verhaftungen von Geschäftsleuten und reichen Prinzen begann, erntete er viel Zustimmung, allerdings fast nur mehr in Saudi-Arabien selbst. Der Hinweis, dass es keinen Rechtsstaat ausmache, Leute – auch wenn es vielleicht Gauner sind – nach Gutdünken einzusperren, bis sie sich freikaufen, wurde von vielen Saudis zurückgewiesen. Auch dass der selbst immens reiche junge Mann alleine bestimmt, für wen welche Regeln gelten, wurde (und wird!) von seinen Unterstützern mit einem Schulterzucken hingenommen.

Denn ob es uns gefällt oder nicht, MbS ist für viele die letzte Hoffnung. Und sie wollen sie auch jetzt noch nicht aufgeben, obwohl sie nach dem Verschwinden – und Tod, das bezweifelt wohl keiner mehr – Khashoggis in ein immer fürchterlicheres Dilemma geraten. Die meisten schweigen. Ein seltener Kommentar stammt von Mohammed Alyahya vom Gulf Research Center in Jeddah.

Er schreibt: "Saudi-Arabiens Reformprozess ist eine Transformation, und Beobachter von außen haben den Luxus, sie zu loben oder zu verdammen. Saudis haben diesen Luxus nicht. Der Prozess ist der einzige Weg nach vorne. Das sollte den äußeren Beobachtern bewusst sein. Den Reformprozess entgleisen zu lassen, würde nichts Gutes bringen, auch wenn die Reformen für manche noch so mangelhaft aussehen. Es gibt keinen anderen Weg als weiterzumachen ..."

Aus diesen Zeilen spricht die Angst, dass, wenn Mohammed bin Salman stürzt, der "Arabische Frühling in Saudi-Arabien" – wie ihn der New York Times-Kolumnist Thomas Friedman nach einem Besuch bei MbS in einem vielgescholtenen Artikel sehen wollte – wieder vorbei ist. Der Vergleich mit dem Arabischen Frühling ließ einen in der Tat am Urteilsvermögen Friedmans zweifeln. Denn bei aller Zustimmung für einige Maßnahmen MbS', die das Leben der Menschen in Saudi-Arabien normalisieren – die Erlaubnis für Frauen, den Führerschein zu machen; das Zulassen von Kultur und Unterhaltung -, es war immer ganz klar, dass das politische System nicht angetastet wird. Wie weit Reformen gehen, bestimmt der Souverän – also, in diesem Fall, nicht das Volk.

Die Familie als Gefahr

Und dennoch wird ein salafistischer Monarch, wie auch jeder republikanische nahöstliche Diktator, das, was er tut, immer wieder aufs Neue mit den Eliten verhandeln, wenn er überdauern will. Dazu gehört in Saudi-Arabien in hohem Maße die engere Familie. MbS, der sich der Unterstützung der Jugend, des Mittelstands und des Business sehr bewusst ist, verhandelt jedoch mit nichts und niemandem. Die Familie als Institution ist aus seiner Sicht keine Unterstützung, sondern eine Gefahr – denn er musste ja mächtige Prinzen aus anderen Zweigen politisch entmachten, um selbst zur Nummer eins hinter dem König zu werden.

Wenn nun in Wien im Zusammenhang mit dem Fall Khashoggi wieder an die Existenz des Abdullah-Dialogzentrums KAICIID (King Abdullah bin Abdulaziz International Center for Interreligious and Intercultural Dialogue) als "saudische Einrichtung" erinnert wird: Auf Letzteres reduziert, kann man dort zweifellos auch gegen die jetzige saudische Führung, die für das Schicksal Khashoggis verantwortlich ist, demonstrieren, so wie es seit Jahren zugunsten des zu einer Auspeitschung verurteilten Bloggers Raif Badawi geschieht.

Der Abstieg der Abdullah-Sippe

Aber die Sache ist insofern komplexer, als zum Aufstieg von MbS seit dem Tod von König Abdullah im Jänner 2015 auch der Abstieg der Abdullah-Sippe gehört. Abdullah hatte seinen Halbbruder Muqrin zum Vizekronprinzen hinter dem jetzigen König Salman gemacht und hatte sich die Unumstößlichkeit dieser Entscheidung von Salman bestätigen lassen. Manche sahen es so: Muqrin würde seinerseits Abdullahs Sohn Mutaib zum Kronprinzen machen, und die Abullah-Linie hätte sich durchgesetzt.

Es kam anders: Schon im April 2014 war Muqrin weg, freiwillig zurückgetreten, Abdullahs Willen mit Füßen getreten. Seine Leute wurden vom Zentrum der Macht entfernt. Aber der entscheidende Schlag kam erst 2017: Da wurde der Abdullah-Sohn Mutaib als Chef der Nationalgarden entlassen – als solcher war er natürlich auch ein gewichtiger Akteur bei der Sicherheit des Königreichs. Mutaib wurde dann auch noch als angeblicher Korruptionist mit den schon erwähnten Geschäftsleuten und Prinzen im Ritz-Carlton festgesetzt. Ein anderer Abdullah-Sohn wurde als Gouverneur von Riad abgesetzt, er und ein weiterer Bruder sind von der Bildfläche verschwunden. Noch einer ist im Ausland. Fazit: Die früheren Vertrauten Abdullahs, nach dem das KAICIID benannt wird, sind vielleicht nicht die ganz großen MbS-Fans.

Rund um das Ritz-Carlton gab es Foltergerüchte, sogar von einem Toten war die Rede. Das Problem sind meist die Quellen: So wie Saudi-Arabien gegen seine Gegner agitiert, so tun es diese gegen Saudi-Arabien. Auch derzeit ist man auf Krawallblätter wie das türkische Yeni Safak angewiesen, das von den türkischen Behörden mit Informationen gefüttert wird.

Ein professioneller MbS-Bewunderer in den USA twitterte diese Woche einen Aphorismus des US-Autors Elbert Hubbard: "Erkläre nie etwas: Deine Freunde brauchen es nicht, und deine Feinde werden dir ohnehin nicht glauben." Er irrt. Es handelt sich um eine Straftat, und die Saudis werden sie erklären müssen, glaubhaft erklären, nicht nur ein paar Sündenböcke in die Wüste schicken. (Gudrun Harrer, 19.10.2018)