Lizza Torres Salazar ist für eine letzte Zigarette vor die Tür die Berghütte gegangen. Weiß-braune Vicuñas stolzieren über den ascheschwarzen Vulkanboden. Die kleinen Verwandten der Lamas suchen nach Grasbüscheln, die in 4.850 Meter Seehöhe nur spärlich wachsen. Hinter der Hütte ragt der Chimborazo in die Wolken. Seine fünf Gipfel bilden eine weiße Krone aus Eis und Schnee. Der höchste misst 6.267 Meter.

Almidyll in 4.000 Meter Seehöhe: Kühe grasen auf den kargen Flanken des 6267 Meter hohen Chimborazo.
Foto: Thomas Wagner

Lizza war unterwegs zur Pazifikküste, Badeschlapfen und Strandtuch im Rucksack. Dann sah die 28 Jahre alte Kolumbianerin im Internet ein Foto des Gletschers. Sie wechselte den Bus, quartierte sich bei einer Indígena-Familie am Fuße des Chimborazo in der Westkordillere der Anden ein und ging vier Tage lang wandern, der Akklimatisierung wegen. Sogar das Rauchen stellte sie ein. Nun zieht sie hastig an ihrer Selbstgedrehten. "Da wollen wir wirklich rauf?", fragt sie. Es klingt zweifelnd.

Modeberg

Alexander von Humboldt war der erste Europäer, der den Chimborazo 1802 zu bezwingen versuchte. Die Höhenkrankheit setzte ihm und seinen zwei Begleitern zu. Blutige Lippen, keine Handschuhe, nasse Schuhe – so quälte sich der kleine Trupp nach oben. Auf 5.500 Meter Höhe versperrte ihnen eine Gletscherspalte endgültig den Weg.

Zweihundert Jahre später ist die Besteigung des Chimborazo keine Pioniertat mehr. Der Berg ist zu einem Modeberg geworden wie der Kilimandscharo in Afrika, der Montblanc in den Alpen oder der Elbrus im Kaukasus: allesamt hohe, namhafte Berge, vergleichsweise einfach zu besteigen, aber dennoch ernsthafte Expeditionen.

Vicuñas spielen Verstecken.
Foto: Thomas Wagner

So auch am Chimborazo: Die Ausrüstung ist moderner, die Route einfacher als die von Humboldt gewählte Strecke. Auch Anfänger wie Lizza buchen die Gipfeltour bei einer der zahlreichen Agenturen in der nächstgelegenen Stadt Riobamba für 260 US-Dollar pro Person; Guide, Ausrüstung und Unterkunft in der Schutzhütte inbegriffen.

Noch bleiben neun Stunden bis zum Abmarsch eine Stunde vor Mitternacht. "Wenn die Sonne aufgeht, schmilzt das Gletschereis. Das erhöht die Lawinen- und Steinschlaggefahr", sagt Bergführer José Gualancañay. Der Indígena vom Puruhá-Volk hat den Chimborazo mehr als hundertmal erklommen. An einem Hang zeigt er Lizza und ihrem deutschen Freund, wie sie Seil, Pickel und Steigeisen einsetzen sollen. Die hören aufmerksam zu. Sie waren noch nie bergsteigen.

Die vulkanischen Flanken des Chimborazo bilden fantastische Formen und Verwerfungen.
Foto: Thomas Wagner

Sie müssten alle Zacken des Steigeisens fest in die Erde rammen, auch wenn der Boden uneben sei, sagt José. Verstanden. Den Pickel Richtung Wand halten. Notiert. Im Falle eines Sturzes sollten sie versuchen, den Pickel ins Eis zu hauen und den Fall abzubremsen. Hmm ... und das funktioniert? Dreißig Minuten braucht der einsilbige Ecuadorianer für seinen Schnellkurs, dann schickt er seine Schützlinge zum Vorschlafen in die Hütte.

Schlaflos

Doch Schlaf will sich nicht einstellen. Die Gedanken kreisen um den Berg. Um fünf Uhr nachmittags servieren die Angestellten der Schutzhütte Hendl mit Reis. An die zwanzig Touristen, Höchstalter dreißig Jahre, finden sich zum Abendessen ein. Sie sind aus Australien, den Vereinigten Staaten und Österreich angereist.

Die zweite Schlafpause verläuft genauso zäh wie die erste. Um zehn Uhr abends, die Sonne ist schon lange untergegangen, kommen alle künftigen Gipfelstürmer zum vorgezogenen Frühstück. Kaum jemand spricht. Es scheint, als ob das Lampenfieber auch die erfahreneren Bergsteiger erfasst hat. Punkt elf Uhr marschiert die erste von insgesamt fünf Gruppen ab. Die nächsten folgen in Abständen von jeweils zehn Minuten. "Zum Angriff", meint José. "Man attackiert den Berg nicht, man fragt ihn um Erlaubnis", erwidert einer der anderen Bergführer.

Hinter der Whymper-Hütte in 5.000 Meter Höhe erfassen die Lichtkegel der Stirnlampen dutzende Grabsteine eines Bergsteigerfriedhofs. "Hier liegen die Touristen, die ohne Führer losziehen", sagt José. Sein Scherz verhallt in der Stille.

Der Bergsteigerfriedhof in der Nähe der Whymper-Hütte.
Foto: Thomas Wagner

Es geht zügig voran. Noch ist der Boden frei von Eis. Im Mondlicht sind unten im Tal die Umrisse der zwei Hütten zu erkennen. Ein kreidebleicher Bergsteiger kommt vorbeigestolpert. Ein Bergführer begleitet ihn. "Manche Neulinge können gar nicht erst aufbrechen, so starke Kopfschmerzen haben sie", sagt José.

Der Pfad führt über Geröll- und Schuttfelder, den Nachlass früherer Ausbrüche des seit 1.500 Jahren inaktiven Vulkans. Lizza setzt jeden Schritt vorsichtig und konzentriert. Wer auf dem lockeren Gestein ausrutscht, fliegt in die Tiefe. Mehrere Male unterbricht ein unheimliches Dröhnen den Aufstieg. Steinschlag. José weist an, rascher zu gehen. Auf offenem Gelände ist das Risiko größer, von fallenden Brocken erfasst zu werden.

Dunkle Tiefe

Kurz vor drei Uhr morgens legt die Dreierseilschaft auf einem Plateau eine Pause ein, um Seil und Steigeisen anzulegen. Auf dem Gletscherrücken weiter oben bewegen sich Lichtpunkte Richtung Gipfel. Es sind die übrigen Bergsteiger mit ihren Stirnlampen. José drängt zum Abmarsch. Lizza folgt in der Mitte. Der Weg verengt sich zu einem 50 Zentimeter schmalen Grat. Links und rechts gähnt dunkle Tiefe. Der Ecuadorianer stoppt plötzlich, schaut über seine Schulter erst auf die Kolumbianerin, dann auf das Seil, das lose zwischen ihnen hängt. "Hast du den Verstand verloren? Was habe ich euch unten erklärt?", brüllt er. "Zwei Meter Abstand halten, und das Seil bleibt straff." Lizza keift zurück: "Beruhige dich. Und schrei mich nicht an." Danach sagt niemand mehr ein Wort.

"Ein Gottesgeschenk zur Beförderung des menschlichen Weitblicks", so beschrieb Humboldt den Chimborazo. Von Weitblick ist bei den beiden Seilpartnern aber im Moment nichts zu spüren. Der Gipfel ist noch 700 Höhenmeter entfernt. Und ausgerechnet hier, zwischen zwei tödlichen Abgründen, müssen die zwei nun streiten?

Eisiger Wind

Humboldts indigene Führer ließen damals den Deutschen und seine beiden Gefährten, den französischen Naturforscher Aimé Bonpland und den Ecuadorianer Carlos Montúfar, an der Schneegrenze alleine zurück und kehrten um. José verstummt glücklicherweise und geht weiter. Nach etwa zehn Meter ist der Grat geschafft. Der Pfad verläuft nicht mehr direkt am Abgrund, wird an mehreren Stellen aber so eng und steil, dass man sich mit dem gesamten Körper die vereisten Felsen hochstemmen muss. José klettert voraus und sichert.

Zwei kalifornische Touristen und ihr Guide kauern sich in einer Schneekuhle nieder, um sich vor dem eisigen Wind zu schützen. Die Lichterketten weiter oben bewegen sich ab- statt aufwärts. Auf Lizzas blassem Gesicht zeichnet sich die Entkräftung ab. "Viele Leute denken, sie haben bezahlt, also müssen sie irgendwie rauf auf den Gipfel. Ich bestimme, ob wir abbrechen", hatte José zu Beginn gesagt.

Entscheidung

Wir befinden uns auf rund 5600 Meter Höhe. Der Guide der anderen Gruppe spricht über Funk mit einem Kollegen in der Vorhut. "Auf dem Gipfel regnet es", sagt José. "Bei Glätte kostet jeder Schritt noch mehr Kraft." Er trifft die Entscheidung: "Wir treten den Abstieg an."

Thomas Wagner hat Alpakas auf dem Weg in Richtung Chimborazo fotografiert. Der höchste Berg Ecuadors misst 6267 Meter.
Foto: Thomas Wagner

Der Wille alleine treibt die müden Körper bei der Rückkehr an. Einmal unterbricht ein Schrei die Monotonie des Schrittesetzens. Lizza steht plötzlich wie versteinert da. "Wenn ich meinem Fuß von diesem Stein nehme, löse ich eine Lawine aus", ruft sie. Nichts passiert. Als die Sonne aufgeht und den Talgrund sichtbar macht, spiegelt sich in Lizzas Augen ein Gedanke: "Zum Glück sind wir nachts aufgebrochen. Hätten wir diese Abgründe von Anfang an gesehen, hätten wir uns nie raufgewagt."

Adrenalin

Humboldt war wie seine Zeitgenossen davon überzeugt, dass der Chimborazo der höchste Berg der Welt sei. Der deutsche Naturforscher veröffentlichte die vielleicht berühmteste Episode seines Lebens erst viele Jahre später unter dem Titel "Über einen Versuch, den Gipfel des Chimborazo zu ersteigen". Keine seiner Entdeckungen trug mehr zu seinem Nimbus bei als das Scheitern am Berg. Niemand war bis dahin in solche Höhen vorgestoßen. Humboldt hatte bei seinem waghalsigen Ausflug vermutlich Glück, dass die Natur ihn zur Umkehr zwang, schreibt der Autor Werner Biermann in einer Biografie. Beim Abstieg verirrte sich der Forscher in einem Schneesturm. Hätte das Unwetter ihn weiter oben überrascht, wäre er schlichtweg erfroren.

Die Seilschaft trifft am Ausgangspunkt der Tour ein, der Carrel-Hütte. Knapp neun Stunden liegen zwischen Abmarsch und Heimkehr. Der Körper schüttet weiter Adrenalin aus. An Schlafen ist immer noch nicht zu denken. Lizza ist stolz. Noch nie sei sie dem Himmel so nah gewesen. Acht von zehn Bergsteigern brechen die Tour ab, sagt José. Das ist auch gut so. Denn nur wer seine Grenzen rechtzeitig erkennt, kommt wieder herunter. (Thomas Wagner, RONDO, 25.10.2018)