Der Anfang: Jürgen Melzer schlägt 1999 in Wien auf.

Foto: Techt

Das Ende: Jürgen Melzer verlässt im Oktober 2018 in Wien die große Bühne. "Es war sehr schön."

Foto: APA/Punz

Thomas Muster kennt sich aus. Natürlich habe Jürgen Melzer eine Chance gegen Milos Raonic, der Kanadier serviere zwar stark bis gemein, aber der Rest erinnere nur am Rande an großes Tennis. Es war Montagabend kurz vor 23 Uhr, als Melzer (37) nach getaner Arbeit in den Katakomben der Wiener Stadthalle saß. Er lächelte, strahlte wie ein junger Atomreaktor, sagte "unglaublich schön". Es hätte sein letzter Auftritt als Einzelspieler sein sollen, er hatte sich das Abschiedsszenario genau überlegt.

Wien war 1999 der Anfang, Wien ist 2018 das Ende der Reise. "Der Zeitpunkt ist gut gewählt, irgendwann muss der Vorhang fallen. Da braucht man nicht herumheulen." Raonic hat nicht ganz mitgespielt, er war ein Spaßvergrößerer, die Nummer 22 der Weltrangliste unterlag dem an 426. Stelle gereihten Melzer 6:7 (6), 5:7. Und der ist jetzt Achtelfinalist der Erste Bank Open. Das letzte Match, die letzte Sentimentalität ist aufgeschoben, der Südafrikaner Kevin Anderson, die Nummer zwei des Turniers, baut sich auf, er misst 2,03 Meter.

Entspanntheit

Die Partie gegen Raonic wollte er einfach nur genießen. "Aber ziemlich bald ist der Sportler durchgebrochen, ich wusste, den kann ich schlagen. Weil ich der bessere Tennisspieler bin. Ich habe keine Sekunde daran gedacht, dass es meine letzte Partie sein könnte." Bei Melzer stellte sich "eine angenehme Entspanntheit ein. Du hast keine Punkte zu verteidigen, du kannst tun, was du willst." Seine Leistung sei "okay" gewesen, jene von Raonic "war aber richtig schlecht".

Die sportlichen Nachrufe sind längst verfasst. Der Deutsch-Wagramer hat fünf ATP-Turniere gewonnen (Bukarest 2006, Wien 2009 und 2010, Memphis 2012, Winston-Salem 2013), stand im Halbfinale der French Open (2010). Am 18. April 2011 wurde er als Nummer acht der Weltrangliste geführt. Der Linkshänder holte fünf Grand-Slam-Titel, zwei als Junior (Wimbledon 1999 im Einzel), zwei im Doppel, einen im Mixed. Er ist jener Österreicher mit den meisten Daviscup-Einsätzen (75). Zehn Millionen Dollar Preisgeld hat er verdient, die erfolgreichste Zeit war jene mit Trainer Joakim Nyström.

"Komplette Legende"

Der zwölf Jahre jüngere Dominic Thiem sagt über Melzer: "Eine komplette Legende." Für Alexander Antonitsch war er "ein unfassbares Talent. Einer der Letzten, die sowohl im Einzel als auch in Doppel reüssiert haben." Muster zollt ebenfalls Respekt: "Ein harter Arbeiter. Er war im Daviscup immer präsent, reiste auch dorthin, wo keiner hinwollte. Wer es in einer Weltsportart bis auf Platz acht schafft, hat etwas erreicht." Natürlich sei mehr möglich gewesen, "aber das kann man über jeden sagen. Das gilt sogar für Roger Federer." Melzer habe es schwer gehabt. "Er wurde immer mit mir verglichen, das ist nicht angenehm." Thiem sei diesem Druck nicht mehr ausgesetzt. "Weil mich die Menschen irgendwann vergessen haben und ich Geschichte bin."

Melzer hatte von Beginn an ein leichtes Imageproblem, er wirkte mitunter weinerlich, kam medial nicht authentisch und etwas unrund rüber. "Ich hätte vielleicht offener sein müssen." In Wahrheit, sagt Antonitsch, "ist er ein wahnsinnig netter Kerl. Wenn man ihn näher kennt." Er selbst sagt: "Man hat mir vorgeworfen, dass ich auf dem Platz nie lache. Aber es war halt nicht immer lustig. Ich empfand meine Karriere als toll, als Kind hätte ich das sofort unterschrieben."

Schmerzhafte Rückschläge

Melzer hat Rückschläge weggesteckt, Handgelenk, Ellbogen und Schulter streikten, die Zahl der Operationen überschritt letztendlich jene der Titel. "In den Verletzungspausen habe ich erkannt, wie wichtig mir das Tennis ist und wie sehr es mir fehlt."

Jürgen Melzer ist wohlbehütet aufgewachsen, die Eltern unterstützten die Ambitionen. Er selbst hat sich später um seinen jüngeren Bruder Gerald gekümmert, der keine große, aber eine passable Tenniskarriere hingelegt hat und vielleicht noch hinlegt. Verheiratet ist er mit der ehemaligen Schwimmerin Fabienne Nadarajah, seit eineinhalb Jahren sind sie Eltern eines Buben.

"Jürgen, Jürgen"

Am Dienstag ist Melzer erkrankt, er kotzte, irgendein Virus, keine Alterserscheinung. Er geht davon aus, heute gegen Anderson anzutreten. Karten für seine engsten Freunde hat er reservieren lassen. In der Stadthalle werden tausende Zuschauer "Jürgen", "Jürgen" rufen. Anerkennung ist keine Frage der Zeit und der Quantität. "Ich möchte in Würde abtreten, nicht über den Platz humpeln, konkurrenzfähig sein."

Der 32-jährige Anderson führt im Vergleich 2:1, was aber völlig wurscht ist. Es ist Melzers 685. Partie auf der Tour, Challenger nicht eingerechnet. "Ich möchte es genießen. Und sollte ich eine Chance wittern, erwacht der Sportler in mir." Im Doppel setzt er die Karriere fort. Muster sagt: "Melzer wird nicht als einer der ganz Großen in die Tennisgeschichte eingehen. Aber in Wimbledon steht sein Name auf einer Tafel. Die bleibt ewig dort hängen." Der letzte Vorhang fällt nach 19 Jahren Profitum gleich zweimal. Oder dreimal. "Ich habe meinen Frieden gefunden." (Christian Hackl, 24.10.2018)