Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache nehmen das Risiko einer Aufhebung der vom Nationalrat beschlossenen Indexierung der Familienbeihilfe durch den Europäischen Gerichtshof in Kauf.

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Unter machttaktischen Gesichtspunkten haben Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache alles richtig gemacht. Ihre Sozialversicherungsreform bringt eine deutliche Stärkung der den Türkisen wohlgesinnten Arbeitgeber. Gemeinsam mit den ÖVP-nahen Arbeitnehmervertretern innerhalb der Selbstverwaltung sollte es so möglich werden, alle Wünsche der Regierung durchzubringen. Um Widerstand der bisher in den Gebietskrankenkassen dominierenden roten Gewerkschafter unterbinden zu können, wurden auch die Aufsichtsrechte von Sozial- und Finanzministerium gestärkt. In der Kategorie Machiavellismus bekommt die Koalition also ein "Sehr gut".

Bis zu einem gewissen Grad ist diese Ausrichtung der Politik auf Machterwerb auch nachvollziehbar. Denn so realistisch muss man sein: Selbst unter stärkerer Einbindung der Sozialpartner wäre am Ende kein Konsens über die Zusammenlegung aller Gebietskrankenkassen gestanden. Die roten Arbeitnehmervertreter haben weder ein Interesse daran, Einfluss abzugeben, noch daran, der Regierung einen großen Erfolg zu gönnen.

Daher kommt es nun zu einer Reform, mit der die Grenzen der Verfassung ausgereizt werden und die zu einer Auftragsflut an Gutachten geführt hat. Die Gebietskrankenkassen warteten mit mehreren Expertisen auf. Eine kam von Rudolf Müller, laut dem die Entmachtung der Arbeitnehmer eindeutig verfassungswidrig ist. Müller war früher – auf einem roten Ticket – Richter am Verfassungsgerichtshof und sollte daher ganz gut einschätzen können, wie weit der Gesetzgeber in die Selbstverwaltung eingreifen kann. Andere Experten, die von der Regierung beauftragt wurden und allesamt auch tadellose Lebensläufe vorweisen können, kommen hingegen zum gegenteiligen Schluss. Alles verfassungskonform, lautet ihr Resümee.

Vertrauensleute im Verfassungsgerichtshof

Es handelt sich also offensichtlich um eine Materie, die in der Fachwelt nicht eindeutig beurteilt wird. Türkis-Blau könnte hier zugutekommen, dass zuletzt Vertrauensleute in den Verfassungsgerichtshof geschickt wurden. Ex-Justizminister Wolfgang Brandstetter wurde ebenso Höchstrichter wie FPÖ-Medienanwalt Michael Rami und der Doktorvater von Oberösterreichs FPÖ-Chef Manfred Haimbuchner, Andreas Hauer. Machiavelli lässt schon wieder grüßen.

Die Gerichte beschäftigen wird wohl auch noch die Indexierung der Familienbeihilfe, die am Mittwoch vom Nationalrat beschlossen wurde. Sie wird dazu führen, dass EU-Zuwanderer für ihre im Ausland lebenden Kinder eine an die Preise des Herkunftslandes angepasste Familienbeihilfe bekommen werden. In aller Regel bedeutet das eine Kürzung.

Bei dieser Frage ist sich die Fachwelt mehr oder weniger einig. Ohne Änderung der EU-Verträge ist die Indexierung europarechtswidrig, so der Tenor. Auch die EU-Kommission hat zigfach darauf hingewiesen. Die Koalition vertraut hingegen auf eine Expertise von Kanzlerberater Wolfgang Mazal. Der ist zwar Arbeits- und kein Europarechtler, aber fest überzeugt, es besser als alle Europarechtler zu wissen.

Kurz und Strache ist natürlich bewusst, dass ein großes Risiko einer Aufhebung durch den Europäischen Gerichtshof besteht. Dieses Risiko wird bewusst in Kauf genommen. Sie wissen: Beim Wahlvolk können sie mit Kürzungen bei "den Ausländern" leichter punkten als mit dem Hochhalten rechtsstaatlicher Grundsätze. (Günther Oswald, 25.10.2018)