Beispiele für Intervention als Überschreitung: "Killed" (2009) von William E. Jones.

Foto: Viennale

"Yaa Bôé" (1975) von Dominique Avron und Jean-Bernard Brunet.

Foto: Viennale

Auf der Strecke zwischen Belgrad und Ljubljana fahren noch Züge, unter denen man sich verstecken kann. Menschen, die auf diese Weise die EU-Außengrenze überwinden wollen, klemmen sich zwischen die Räder und müssen darauf hoffen, dass sie unterwegs nicht die Kräfte verlassen. Manche drehen in ihrer exponierten Lage sogar einen Film – ein Handyvideo, auf dem Füße in Sportschuhen zu sehen sind, die zwischen den rollenden Rädern auf einer Achse Halt suchen.

In welche Filmgeschichte gehören solche Aufnahmen? Diese Frage verhandelt die Slowenin Nika Autor in ihrem Essayfilm Osbornik 63 – Vlak Senc (Newsreel 63 – The Train of Shadows). Sie schlägt dabei einen weiten Bogen, der mit der berühmten Szene der Brüder Lumière beginnt: Ein Zug fährt in eine Station ein und kommt zum Halten. Die Filmemacherin geht sogar noch ein wenig weiter zurück in der Bildgeschichte und bemüht ein Gemälde von Turner.

Präziser und plausibler werden die Zusammenhänge aber dort, wo Autor auf die konkrete Geschichte des Verkehrswesen – der Staatsbahnen im kommunistischen Jugoslawien und ihrer Verbindungsfunktion im Vielvölkerstaat – eingeht. Das Ende des Films ist auf eine bedrückende Weise pointiert: Die Schienenschwellen, die damals für eine längere Haltbarkeit mit giftigen Substanzen behandelt wurden, dienen heute Migranten als Brennholz. Nika Autor endet mit einer Sentenz: "Bilder sollten eine Geschichte haben, die von der Situation verschieden ist, die sie zeigen."

Strategische Distanz

Man kann diese These gut in das ganze Programm mitnehmen, das die Filmhistorikerin und Kuratorin Nicole Brenez unter dem Titel Visual Justice für die Viennale zusammengestellt hat. Das politische Kino, dessen Formen und Strategien hier dokumentiert und reflektiert werden, leidet ja häufig auch unter dieser Distanz zu der Situation; es versucht, agitatorisch oder aktionistisch so nahe wie möglich an die Wirklichkeit(en) heranzukommen, die es zu verändern gilt – und dies umso mehr, als die technischen Entwicklungen den interventionistischen Bildtypen immer stärker entgegenkommen. Gerechtigkeit aber ist eine klassische Prozesskategorie: Sie muss hergestellt werden, und nicht selten gibt es dabei tatsächlich einen spezifischen Repräsentationsaspekt: Gerechtigkeit heißt dann, Dinge aus der ideologischen Verzerrung zu befreien.

Für alle diese Aspekte gibt es Beispiele im Programm: Rom (1989) von Menelaos Karamagiolis war etwa zu seiner Zeit eine Pionierarbeit, in der eine audiovisuell wie politisch-sozial marginalisierte Gruppe, die griechischen Roma, aus dem Ghetto der Vorurteile geholt wurde. In Les Ciseaux (2003) von Mouna Fatmi sind Liebesszenen zu sehen, die der marokkanischen Zensur zum Opfer gefallen sind: Man sieht also, hervorgehoben in einer nun übertriebenen Collage, eine Freiheitsgrenze, die mitten durch eine Gesellschaft verläuft. In Killed von William E. Jones geht es um den seltsamen Umstand, dass ein Mitarbeiter eines Fotodokumentationsprogramms in den 1930er-Jahren in den USA zahlreiche Fotografien "tötete", indem er Negative zerstach. Den denkbaren Motiven geht der kurze Film nicht eigentlich nach – er deutet vielleicht einen Protest gegen das Ungenügen kulturpolitischer Repräsentationsbemühungen an. Das wären dann die zwei Minuten im Programm von Visual Justice (und der Viennale insgesamt), die einen Stachel in das ganze Projekt eines Filmfestivals als einer politischen Öffentlichkeit versenken. (Bert Rebhandl, 29.10.2018)