Der Chat war im Februar 1999 das erste STANDARD-Angebot an Leserinnen und Leser, online aktiv das Wort zu ergreifen. Es handelte sich um einen klassischen Chatroom, in dem in Echtzeit miteinander diskutiert werden konnte.

In den 90er-Jahren waren Chats beliebte Treffpunkte im Internet, der ORF betrieb damals den populären "Ö3-Chat". Beim STANDARD wurde eine eigens gekaufte Software für den Chat eingesetzt und nach und nach um neue Funktionen erweitert.

2008 gab es jedoch keinen weiteren Support durch den Hersteller. Der Server konnte nicht weiter betrieben werden, und es kam zu einem abrupten Aus für den Chat. Die Community war erschüttert, denn sie verlor ohne Vorwarnung ein Zuhause. Dafür ein spätes, aber ernst gemeintes Sorry aus dem Community-Team!

Ein Screenshot des Chats aus einer längst vergangenen Zeit.
Foto: Internet

Im Forum zu "Wie DER STANDARD zu seiner Community kam" vermisste Userin "power-cat" eine Würdigung des Chats, griff gleich selbst zur Tastatur und lässt nun die Community von heute daran teilhaben, wie es so war, damals, im STANDARD-Chat. (Christian Burger)

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Userin "power-cat" erzählt

Im Jahr 1999 klingelte mein Telefon, und meine Schwester erzählte mir ganz aufgeregt: "Der STANDARD hat nun auch einen Chat. Das ist toll, komm, schau auch rein." – "Ein Chat? Wozu soll das gut sein?"

Ich machte mich auf zur "Bar", grübelte über einen passenden Nickname, und irgendwann stand ich drinnen. Ich blickte mich um und sah am Rand einige fremde Nicks. Keiner davon war der meiner Schwester, die war bereits ausgestiegen und ging auch nie mehr in die Bar. Ich, trotz meiner Skepsis, blieb dabei, und es tat sich eine für mich fremde neue Welt auf.

Da las ich "Hekate betritt die Bar". Hekate? Das war ja ich! Und schon wurde ich willkommen geheißen, grüßte freundlich retour und war mitten in den Gesprächen. Es war spannend, es war fremd, es war neu, und es war lustig. Die Zeit verging, und ich beschloss, das macht Spaß, da geh' ich wieder hin. Aber ich brauchte einen neuen Nick, einen maßgeschneiderten und keinen aus der Mythologie, einen, der zu mir passt, also wurde "Dolfincat" geboren.

Vom Zaungast zum Stammgast

"Dolfincat" war bald Stammgast in dieser Bar, in die man als Fremde eintrat und Teil der Gemeinschaft wurde. Rasch wurden mir die Menschen hinter den Nicks vertraut, und Schicht für Schicht offenbarten wir mehr oder weniger unsere Eigenheiten, die Gewohnheiten, die Wohnorte und die Lebensumstände. Eine bunte Belegschaft von Menschen, in alle Teile der Welt verstreut, aus allen Berufen und Studierende vielerlei Richtungen. Sie alle verband die Neugierde aufeinander, die Lust an Gesprächen miteinander, das Interesse aneinander und die eine oder den anderen die Hoffnung auf mehr. Auf Freundschaften, auf Affären, auf neue PartnerInnen oder WeggefährtInnen.

Wie im realen Leben begann das Gespräch, sobald man in die Bar trat. Schwieg man länger als zehn Minuten, flog man allerdings hinaus. Da half dann nur, zumindest einen Punkt oder ein "afk" zu tippen. Und nichts gab es nachzulesen, nichts wurde protokolliert außer in den Köpfen der gerade Anwesenden oder in ganz seltenen Fällen durch Screenshots.

Es gab keine Möglichkeit, rote oder grüne Stricherl zu verteilen, sondern Meinungen und Ansichten. Zustimmungen, Ablehnungen oder ganz einfach ein Gruß mussten schriftlich mitgeteilt werden. Meistens waren das Mitteilungsbedürfnis und die Freude an Albernheiten, Austausch von Meinungen, gegenseitigen Neckereien oder Lust an ernsthaften langen Diskussionen so groß, dass es immer genügend Gesprächsstoff gab.

Der Schritt in die reale Welt

Die Neugierde auf die Personen hinter den Nicks führte bald zu ersten Treffen im realen Leben, denen noch viele folgten. Wer nicht dabei sein konnte, lernte viele zumindest anhand von Fotos kennen, die bei den Treffen gemacht wurden und danach auf diversen Webseiten geteilt wurden.

Es war eine kleine, feine Gemeinschaft, die dort entstand. Ich denke, echte Dauergäste waren wir in Summe nie mehr als 200. Eine gut besuchte Bar hatte zu bestimmten Zeiten des Tages zwischen 15 und 35 Gäste. Mit 35 wurde es schon etwas eng, man musste flink sein mit dem Tippen, um mit möglichst vielen am Gesprächsfaden zu spinnen. Die Bar war aufgrund ihrer weltweit verstreuten Gäste und der Lebensumstände der Einzelnen rund um die Uhr geöffnet.

Könnte es virtuell in den Köpfen der Chatgäste so ausgesehen haben?
Foto: gettyimages

Sparsam war die Bar eingerichtet. Zu Beginn gab es keine Dekorationen wie Emoticons oder dergleichen. Alles spielte sich im gemeinsamen Raum ab. Nur flüstern konnte man bei Bedarf.

Viele kamen, einige gingen, und einige bildeten wie in jeder gemütlichen und guten Bar die Stammbelegschaft. Es wurde gelacht, getröstet, heftig diskutiert, ausführlich argumentiert und herumgealbert. Es wurde geflirtet, es wurde gestritten und auch wieder versöhnt.

Von heißen Küssen, Rosen und kalten Getränken

Mit der Zeit wurden die Räume um Separees erweitert, und es kamen Bilder dazu. Da war die Gier geweckt. Kaum gab es Bilder für Kaffee, Bier und Wein, wurde der Wunsch laut nach Martini, Blumen, Tieren, Zigaretten und so weiter. Wir hatten liebevolle Betreuer, die ihr Möglichstes gaben, und manchmal brachte der Übermut uns dazu, den Raum vollkommen mit heißen Küssen, Rosen und kalten Getränken zu fluten.

Doch unsere kleine, idyllische Bar zog auch Trolle und Provokateure an. Da wurden Nicks gekapert und imitiert, da gab es Beschimpfungsorgien, die einige sprachlos und andere wütend machten. Wir bekamen einen Button zum Ignorieren, und es zogen auch Misstrauen, Vorsicht und weniger Offenheit ein. Wir lernten damit umzugehen. Einige verzichteten auf diese Gesellschaft, die meisten bleiben, und Neue kamen hinzu. Wir erlebten gemeinsame Trauer, als wir vom Tod des viel zu jungen "Gössermuskel" hörten. Es gab Lebenskrisen, Veränderungen, Neuanfänge. "HerrRossi" baute uns ein sehr schönes externes Board. Mit Anschlagtafel und allerlei Ecken und Nischen für jenes, das nicht flüchtig sein sollte.

Der Schock

Eines Märztages im Jahr 2008 wollte ich wie üblich die Bar betreten, aber statt in der Bar landete ich bei dem Insert: "Diese URL existiert nicht". Kein Grund zur Beunruhigung. Technische Probleme gab es schon öfters, probiere ich es halt später. Nix da. Im Laufe des Tages wurde die Irritation zum Gerücht und dann zu Gewissheit. Die Bar war geschlossen. Für immer. Wir konnten es nicht glauben. Kein Jammern, kein Flehen, kein Wehklagen und kein Schimpfen half. Der STANDARD hatte unsere Bar gesperrt.

Wir konnten nicht wie angenommen unser zehnjähriges Jubiläum gemeinsam feiern, sondern wurden nach neun Jahren rausgeworfen. Wie waren heimatlos geworden. Zuerst irrten wir herum, versuchten anderswo heimisch zu werden und wurden es nicht. Dann, nach einigen Monaten des Umherschweifens, bot uns "HerrRossi/FaulerWilli" ein Exil. Zum Board kam ein Fensterbrett, und einige sammelten sich dort. Aber viele hatten wir unterwegs verloren, und so schön das Fensterbrett auch war und so liebevoll es gestaltet wurde, es war nicht mehr das Gleiche. Die Verbindung Zeitung und Bar war endgültig Geschichte und damit auch die Gemeinschaft. Einige Bekanntschaften und Freundschaften überdauerten es und halten bis heute. Auch einige Lebensgemeinschaften und Ehen.

Einige unsere geliebten Stammgäste verstarben, viel zu jung, wie "DualMan", "Gössermuskel" und "PaterHirni". Und dann, nach langer, langer Zeit, eröffnete DER STANDARD das Off-Topic-Forum, und einige der alten Stammgäste trafen sich dort wieder. Einige mit alten Nicks wie "FaulerWilli", "Wednesday" und "Fluxerl", einige im neuen Gewand wie "Lorenzo de Ponte" und ich und einige wohlverborgen in ganz neuem Look. Möge es uns diesmal wieder eine lange Zeit Zuflucht sein. Den Alten und den Neuen. Vielen lieben Dank den WeggefährtInnen! (Userin "power-cat", 3.11.2018)

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power-cat