Inhalte des ballesterer #136 (November 2018) – Seit 25. Oktober im Zeitschriftenhandel und digital im Austria-Kiosk

SCHWERPUNKT THIERRY HENRY

DER HOHEPRIESTER VON HIGHBURY

Henrys Arsenal

DIE ERNTE VON CAMP NOU

Henrys Barcelona

ZWEI TITEL UND EIN HANDSPIEL

Henrys Frankreich

DER RÜCKKEHRER

Nick Hornby über Henry

DISZIPLIN UND ÄSTHETIK

Die Philosophie des Trainers Henry

Außerdem im neuen ballesterer:

ABSCHIED VON HELMUT KÖGLBERGER

Nachruf auf den LASK-Jahrhundertspieler

TOP FIVE

Der LASK hat große Pläne

mitgefühl für die mächtigen

Ein Anstoß zu Cristiano Ronaldo

ROMS PRINZ

Giuseppe Giannini im Interview

NEUE MODE SARRIBALL

Maurizio Sarri bei Chelsea

ALLERSEELEN

Fußballergräber in Wien

RUMÄNISCHE VERWIRRUNG

Die doppelten und dreifachen Traditionsklubs

BARRIEREFREIHEIT

Ein Praxistest im Weststadion

BESORGTE FANS

Die Proteste gegen Polizeigesetze

"DIESE MÄNNLICHE WELT VERSCHWINDET"

Soziologe Kossakowsi erforscht polnische Kurven

GROUNDHOPPING

Matchberichte aus Belgien, Deutschland, Georgien und Luxemburg

Den südfranzösischen Akzent hat Jean-Marie Panza nicht abgelegt, obwohl er mehr als 30 Jahre in der Pariser Banlieue gelebt hat. Der heute 70-Jährige arbeitete bei der Post und trainierte nebenbei den Nachwuchs der örtlichen Fußballklubs. Einer seiner Schützlinge wurde Weltmeister. Zunächst ist Panza im Gespräch über Thierry Henry zurückhaltend, doch dann kommt er ins Erzählen. Der Stolz und die Freude über den früheren Stürmer, den er als Elfjährigen zu seinem Verein geholt hat, sind ihm anzumerken. Heute lebt Jean-Marie Panza wieder im Süden Frankreichs und betreut in der Fußballschule des Montpellier HSC die Torleute der Kinderteams.

ballesterer: Sie verfügen über sämtliche Trainerlizenzen und haben jahrzehntelang Mannschaften betreut. Hat es Sie nie gereizt, daraus einen Beruf zu machen?

Jean-Marie Panza: Nein. Der Fußball ist immer meine Leidenschaft gewesen, auch heute noch, mit über 70. Im Fußball hängt sehr viel vom Zufall ab, und es gibt sehr viele Karrieristen. Ich hätte auch nie Spielerberater werden wollen, obwohl ich mit weiß Gott genügend großen Talente gearbeitet habe. Ich hätte mit ihrer Hilfe reich werden können, aber das entspricht nicht meiner Lebenseinstellung. Ich bin kein Teppichhändler.

Sie sind 1968 in die Vororte von Paris gezogen. Zuerst haben Sie im Westen bei der Post in Antony gearbeitet, später in Palaiseau im Süden. Wie war die Banlieue damals?

Das ist eine gute Frage, aber auch verwirrend, denn sie klingt ganz anders als früher. Der Begriff "Banlieue" hat heute einen negativen Beiklang, den er damals überhaupt nicht gehabt hat. Er war einfach eine geografische Bezeichnung für das Übergangsgebiet zwischen Stadt und Land. Es hat keine Vorurteile gegenüber Menschen gegeben, die dort leben. Sicher, die Häuser in der Banlieue haben anders ausgesehen als in Paris, aber das hat sich von Ort zu Ort auch stark unterschieden. Im Süden hat es in Les Ulis und Massy große Plattenbauten gegeben, Palaiseau war aber eher eine bürgerliche Wohngegend mit Einfamilienhäusern.

Für Jugendliche aus der Banlieue gilt Fußball heute als Weg zum sozialen Aufstieg. Wie war das vor 30 Jahren?

Damals war Fußball einfach eine Freizeitbeschäftigung. Wer vor 30 Jahren Profi werden wollte, hat sich im nationalen Ausbildungszentrum Clairefontaine bewerben müssen. Heute gibt es Nachwuchsleistungszentren in ganz Frankreich, einschließlich der Banlieue. Und heute wollen nicht nur ein paar Talente Profis werden, sondern ganze Massen. Sie setzen auf den Fußball, um einem sozialen Umfeld ohne Perspektiven zu entkommen.

Reden wir über Les Ulis, den Ort, an dem Thierry Henry aufgewachsen ist.

Les Ulis ist in den 1970er-Jahren aus dem Boden gestampft worden. Die Bevölkerung war eher jung und sehr gemischt. Der Sport ist sehr schnell zum Markenzeichen der Stadt geworden, auch Patrice Evra und andere Sportler sind dort aufgewachsen. Les Ulis spielt heute in der fünften Liga.

Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Begegnung mit Henry?

Ich war damals Trainer der U15 von Palaiseau und immer viel unterwegs, um Talente zu beobachten. Ein guter Freund – er ist inzwischen leider verstorben – hat mich auf einen kleinen Stürmer aus der U11 von Les Ulis aufmerksam gemacht. Der sei sehr vielversprechend, ich solle ihn mir doch einmal anschauen. Als ich Thierry dann das erste Mal gesehen habe, hat er gegen die Mannschaft meines Sohnes gespielt. Palaiseau hat 6:5 gewonnen, aber Henry hat alle fünf Tore für Les Ulis geschossen. Sein Angriffsspiel, sein Tempo und sein Stil waren beeindruckend. Mein Freund hat dann den Kontakt zu Thierrys Vater Tony hergestellt. Er war damit einverstanden, dass sein Sohn zu uns wechselt.

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1999 holte Arsene Wenger Henry zu Arsenal, es war der Beginn einer wunderbaren Geschichte.
Foto: ap/nowacki

War der Wechsel ein Schritt nach vorne?

Ja, unsere Jugendteams haben auf einem höheren Niveau gespielt. Außerdem waren wir ein Partnerverein der AS Monaco. Sie haben immer wieder Scouts vorbeigeschickt, um unsere Spieler zu beobachten.

Sie haben gesagt, Henrys Vater hat die Entscheidung getroffen. Welche Rolle haben seine Eltern gespielt?

Thierrys Mutter Maryse ist sehr zurückhaltend, von ihr hat er die Fähigkeit, Dinge in Ruhe zu analysieren. Thierry mag für die einen extrovertiert scheinen, für die anderen introvertiert, aber alle sind sich darin einig, dass er etwas zu sagen hat. Zu seinem Vater hat er eine fast symbiotische Beziehung gehabt, sportlich und emotional. Tony hat viel von Fußball verstanden. Und er war mit seinem Sohn sehr streng, damit er seine Ziele nicht aus den Augen verliert.

Wie war Henry im Umgang mit den anderen Burschen?

Er war ein Teenager wie all die anderen. Natürlich hat er seine kleinen Spinnereien gehabt, wenn es darauf angekommen ist, war er aber immer konzentriert. In seinem ersten Jahr hat er 55 Tore für uns geschossen – oft mithilfe seiner Mitspieler. Wir haben eine der besten Mannschaften in der Region gehabt, mit guten, sehr guten und ausgezeichneten Spielern. Thierry hat zur letzten Kategorie gehört, aber er hat sich nie in den Vordergrund gedrängt. Ich weiß noch, wie er einmal gesagt hat: "Wer Talent hat, braucht nicht darüber reden, er soll es zeigen." Wenn Thierry das einmal vergessen hat, war sein Vater da, um ihn daran zu erinnern.

Ist Ihnen damals schon bewusst gewesen, was für ein Talent Sie in der Mannschaft haben?

Ich denke schon. Aber die Erfahrung zeigt ja, dass selbst die größten Talente nicht unbedingt den Schritt zum Profifußballer schaffen. Thierry hat allerdings einen großen Vorteil gehabt: das Vertrauen seiner Eltern. Tony war immer davon überzeugt, dass sein Sohn eines Tages Profi wird. Darin war er Realist, das hat die Geschichte bewiesen.

Sie sind Thierry sehr nahegestanden, so nahe, dass Sie ihn begleitet haben, als er zu Viry-Chatillon gewechselt ist.

Ich möchte über Einzelheiten dieser Geschichte nicht sprechen, aber ich kann Ihnen sagen, dass Palaiseau einen großen Fehler gemacht hat, Thierry nicht zu halten. (Henry wurde aufgefordert, den Klub zu verlassen, nachdem sein Vater bei einem Streit mit dem Schiedsrichter für einen Spielabbruch gesorgt hatte, Anm.) Ich bin damals aus einer Reihe von Gründen gegangen, die mit dem Verein zu tun gehabt haben. Heute habe ich aber wieder ein gutes Verhältnis zu Palaiseau.

War es sportlich ein guter Wechsel?

Viry war noch ein bisschen besser als Palaiseau, sie haben mehrere Teams in den landesweiten Meisterschaften gehabt. Und so hat Thierry in der nationalen U15-Meisterschaft spielen können, das war ein großer Schritt nach vorne. 1991 hat er den Aufnahmetest für die Akademie Clairefontaine absolviert. Unter der Woche war er dann im Internat, an den Wochenenden hat er für Viry gespielt.

Ihre Wege haben sich zwei Jahre später getrennt, aber Henry hat Sie nicht vergessen. Er hat sie als eine der wichtigsten Personen für seine Karriere bezeichnet und als Freund.

Man unterscheidet ja manchmal zwischen Bekannten und Freunden – dann ist Thierry sicher ein Freund. Wir haben einander nie aus den Augen verloren. Auch wenn wir uns selten sehen, sind wir über Whatsapp in Kontakt. Ich habe ihn einige Male in London getroffen, zu Geburtstagen und Neujahr. Und sonst höre ich von seinem Vater, wie es ihm geht. Freundschaften bestehen ja nicht darin, sich täglich zu sehen, sondern darin, aneinander zu denken. Thierry hat in einem Interview mit "L'Equipe" einmal gesagt, dass ich die Leitfigur in seiner Jugend gewesen bin. Ich will nicht eingebildet wirken, aber das ist schon eine große Sache. Er muss ja nicht so über mich sprechen. Wenn er es tut, sieht er es wohl wirklich so.

Foto: imago/PanoramiC

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Als Spieler war Henry von 1994 bis 1998 bei der AS Monaco, nun ist der französische Erstligist seine erste Station als Cheftrainer.
Foto: reuters/kessler

Hat er Sie bei seiner Karriereplanung um Rat gebeten?

Ich bin einer von denen, die ihm bei seiner ersten Profistation zu Monaco geraten haben. Danach habe ich mich nicht mehr eingemischt. Thierry hat die richtigen Entscheidungen getroffen, ein großer Spieler wechselt nicht 20-mal den Verein. Und es gibt nicht allzu viele, deren Statue vor dem Arsenal-Stadion steht.

Bei Arsenal ist Henry zwei Jahre lang Kapitän gewesen. Hat Sie das überrascht? Sie haben vorhin gesagt, er hat sich nie in den Vordergrund gedrängt.

Vom Typ her ist Thierry niemand, der sich um die Kapitänsschleife reißt. Aber dass er sie getragen hat, überrascht mich gar nicht. Um Kapitän zu sein, muss man Stärke zeigen, und das ist genau das, was Henry gemacht hat.

War Frankreichs WM-Titel von 1998 auch ein Sieg der Banlieue? Dort haben ja mehrere Spieler der Mannschaft ihre Wurzeln.

Nein. Ich habe den Titel für Henry eher als Sieg eines normalen Burschen gesehen, der bei einem kleinen Klub angefangen hat und sich immer auf sein Ziel konzentriert hat. Es war keine Wiedergutmachung, sondern die Belohnung für viel Arbeit und viel Talent. Ich habe an Thierrys Vater gedacht, der immer gesagt hat, dass er einmal für Frankreich spielen wird. Und Les Ulis ist vor Stolz fast geplatzt, das ist ja klar. Der WM-Titel hat gezeigt, dass es auch ganz unten große Talente gibt und ausgezeichnete Trainer, die sie fördern.

Im Sommer ist Henry als Trainer bei Aston Villa und Bordeaux im Gespräch gewesen. Am Ende ist er Co-Trainer beim belgischen Nationalteam geblieben. Wie sieht seine Zukunft aus?*

Er hat alles, was es braucht – die Ausbildung, das Wissen und die pädagogischen Fähigkeiten. Er kann beobachten, analysieren und dann handeln. Ich bin davon überzeugt, dass er ein sehr guter Trainer wird. Dass er nicht das erstbeste Angebot angenommen hat, zeigt auch, dass er eine gewisse Geduld mitbringt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mitten in der Saison jemanden ersetzen wird. So ist er nicht erzogen worden, dafür hat er zu viel Respekt. Aber er scheint mir sehr entschlossen zu sein, seine Trainerkarriere voranzubringen. Dafür hat er auch seinen gut bezahlten Job als TV-Experte gekündigt. Das sagt viel über Thierry aus. Er wird als Trainer so sein, wie er als Spieler gewesen ist. (Julien Duez, 2.11.2018)

* Mittlerweile ist Henry Cheftrainer bei der AS Monaco.