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Auf dem Prager Wenzelsplatz feierten am 28. Oktober 1918 tausende Menschen die Gründung der Tschechoslowakei. Die Habsburgermonarchie war de facto am Ende.

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Die Prager Villa Müller von Adolf Loos und die ...

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... Villa Tugendhat von Ludwig Mies van der Rohe im mährischen Brünn wurden zu Pilgerstätten für Architekturinteressierte aus aller Welt. Beide zählen zu den bahnbrechenden Bauten der späten 1920er-Jahre.

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"Wo ist meine Heimat?" Es ist ein kleines, aber nicht unbemerktes Detail der politischen Kultur Europas, dass die tschechische Hymne mit einer Frage beginnt. Gleiches galt zuvor bereits für die Hymne der Tschechoslowakei, die vor genau 100 Jahren, am 28. Oktober 1918, auf den Trümmern der Habsburgermonarchie entstanden war – den slowakischen Teil hatte man einfach hinten angehängt.

Keine Spur also von der stolzen Selbstgewissheit, die Hymnen in der Regel ausstrahlen sollen. Im Gegenteil: Das langsame, ja zaghafte Lied Wo ist meine Heimat? stammt aus einem Theaterstück des 19. Jahrhunderts, wo es von einem blinden Geiger gesungen wird.

Schon damals gab es längst eine starke tschechische Nationalbewegung, die sich von Wien, von Österreich-Ungarn, lossagen wollte. Kein Wunder, dass die Ausrufung der Tschechoslowakei gegen Ende des Ersten Weltkriegs dann von den politischen Akteuren als "Erfüllung eines uralten Traums" gefeiert wurde. Gleichzeitig aber war sie ein Herantasten an eine ungewisse Zukunft, die hinsichtlich der Organisation des neuen Staats und seines Platzes in Europa noch viele Fragen offenließ.

Dieser Tage wird in dutzenden Ausstellungen, Multimediainstallationen, Konzerten und Diskussionsveranstaltungen an die Geburtsstunde der Tschechoslowakischen Republik vor 100 Jahren erinnert. Am Freitag kam die deutsche Kanzlerin Angela Merkel auf einen Kurzbesuch beim tschechischen Premier Andrej Babiš nach Prag, während Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in Bratislava seinen slowakischen Amtskollegen Andrej Kiska traf, um später in Prag an den Feierlichkeiten zum Jubiläum der Staatsgründung teilzunehmen. Auch viele andere ausländische Gäste hatten sich angekündigt. Und erneut ist es eine Frage, die sich in der medialen Begleitmusik rund um den Jahrestag immer wieder Gehör verschafft: Warum feiern die Tschechen mit so viel Enthusiasmus einen Staat, der seit mehr als 25 Jahren, also seit der Teilung der Tschechoslowakei am 1. Jänner 1993, gar nicht mehr existiert?

Resolution des Parlaments

Die Antwort hat vor allem mit dem enorm positiven Image der Ersten Republik zu tun. Am Freitag verabschiedete das tschechische Abgeordnetenhaus gar eine Resolution, die die demokratischen Grundfesten, auf der die Tschechoslowakei einst errichtet worden war, zum Grundpfeiler der heutigen Tschechischen Republik erklärt. Es war so etwas wie die parlamentarische Bestätigung eines kollektiven historischen Sehnsuchtsorts: Die Jahre von 1918 bis 1938 gelten, anders als in Österreich, als glanzvolle Epoche der politischen Stabilität, des wirtschaftlichen Aufschwungs und der kulturellen Blüte.

Historiker warnen allerdings davor, die Erste Republik zu idealisieren: Die Autonomie des Parlaments etwa sei durch massive Einschränkungen des freien Mandats relativ gering gewesen, wichtige Entscheidungen seien meist im kleinen Kreis informeller Parallelstrukturen gefallen. Kurzum: Die politischen Eliten hätten kein besonders stark ausgeprägtes Vertrauen in den Parlamentarismus gehabt – auch wenn die Tschechoslowakei, die mit ihren deutschen, ungarischen und anderen Minderheiten ein Vielvölkerstaat war, sich bis 1938 als Insel der Demokratie behaupten konnte.

Wirtschaftshilfe für Wien

Ihre Stabilität in den stürmischen Jahren der Zwischenkriegszeit hängt auch mit dem ökonomischen Aufschwung zusammen. Wichtige Teile der Industrie Österreich-Ungarns waren in Böhmen angesiedelt: Fahrzeug- und Waffenindustrie, Maschinenbau, Glasproduktion und natürlich die Bierbrauerei.

Die Wirtschaft des neuen Staates konnte auf der Tradition dieser Betriebe aufbauen – und auf der mit ihnen gewachsenen Ausbildungsstruktur in der Gesellschaft. In den 1920er-Jahren wurde die Tschechoslowakei zu den zehn reichsten Staaten der Welt. Wie sehr sie sich damit von der damaligen Ersten Republik Österreich unterschied, illustriert ein Detail aus der Geschichte der bilateralen Diplomatie: Der österreichische Präsident Michael Hainisch und sein tschechoslowakischer Amtskollege Tomáš Garrigue Masaryk unterschrieben 1921 einen Vertrag, der an die Friedensabkommen nach dem Ersten Weltkrieg anknüpfte und das Versprechen der Tschechoslowakei enthielt, den wirtschaftlichen Wiederaufbau Österreichs finanziell zu unterstützen. Eine gewöhnungsbedürftige Vorstellung für all jene, die beim Wort Tschechoslowakei vor allem an deren spätere Zerschlagung durch Hitlerdeutschland und an ihren ökonomischen Niedergang während der kommunistischen Diktatur denken.

Im kulturellen Bereich wurde vor allem die Architektur zum Aushängeschild des jungen Staates. Mit ihrer Sichtbarkeit im öffentlichen Raum repräsentierte sie dessen modernes Selbstverständnis wie kaum eine andere Kunstform. Funktionalistische, ja sogar kubistische Bauten prägen bis heute das Straßenbild vieler Städte.

Unterstützung der Alliierten

Der "Erfüllung des uralten Traums" von der Selbstständigkeit waren während des Ersten Weltkriegs intensive diplomatische Bemühungen von Tomáš Garrigue Masaryk und seinen Mitstreitern vorausgegangen. Masaryk war es im Exil gelungen, die Kriegsgegner Österreich-Ungarns von der Idee eines tschechoslowakischen Staates zu überzeugen. So konnte bereits zwei Wochen vor dem Ende des Ersten Weltkriegs die neue Republik ausgerufen werden.

Die Unterstützung der Alliierten war den Staatsgründern also gewiss. Dennoch galt eine auf Kleinstaaten basierende mitteleuropäische Nachkriegsordnung schon damals nicht als der Weisheit letzter Schluss, erklärt der Wirtschaftshistoriker Drahomír Jančík von der Prager Karls-Universität im Gespräch mit dem STANDARD. Auf der Friedenskonferenz von Versailles habe es Ängste vor einer "Balkanisierung Europas" gegeben, vor "kleinen Einheiten mit umstrittenen Grenzen, instabiler Wirtschaft und inneren Nationalitätenkonflikten". Der spätere US-Präsident Herbert Hoover habe als Mitglied der US-Delegation bei den Friedensverhandlungen empfohlen, dass an die Stelle Österreich-Ungarns eine andere Art von supranationaler Struktur treten solle, die wirtschaftlich überlebensfähig sei. "Der Gedanke größerer Einheiten jenseits der Nationalstaaten war damals durchaus lebendig", so Jančík.

Europäische Schlafwandler

Bekanntlich wurde daraus nichts. Keine 20 Jahre später versank Europa erneut im Krieg. "Die Europäer waren damals – wie schon vor dem Ersten Weltkrieg – bestenfalls Schlafwandler", sagt Tomáš Kafka, Leiter der Mitteleuropaabteilung im tschechischen Außenministerium, zum STANDARD. Später, nach dem Ende des Kalten Krieges, seien sie zu Träumern geworden, für die es angesichts neuer Konflikte bald ein unsanftes Erwachen geben könnte: "Wir müssen nun endlich zu schätzen lernen, was wir haben, und die Möglichkeiten zur Zusammenarbeit in Europa auch für die Zukunft erhalten", so Kafka. "Damit wir am Ende nicht wieder zu Schlafwandlern werden." (Gerald Schubert aus Prag, 28.10.2018)