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"Weg mit dem Brexit" forderten 670.000 Menschen kürzlich in London. Nach dem Protestmarsch wurden knallgelbe Aufkleber auf die Türen des Kabinettsgebäudes geklebt.

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Wolfgang Müller-Funk rät zu Empörungsabstinenz.

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Wir leben, ließe sich sagen, in einer Periode unablässiger Empörung. Man kann sich, so man möchte, von morgens bis abends empören. Über den amerikanischen Präsidenten, über den Klimawandel, über Kopftücher, über die restriktive Migrationspolitik, über Atomkraftwerke oder vielleicht auch über Windräder, über sexuell unkorrekte Männer, über Hassbotschaften in den sozialen Netzwerken, über den Neoliberalismus, über den Populismus, selbst über Themen wie die Flexibilisierung der Arbeit oder über die Neuorganisation der Sozialversicherungen. Ich will damit nicht behaupten, dass all diese Themen nicht wichtig seien. Ich möchte auch nicht bestreiten, dass es verständlich ist, sich über bestimmte politische Entwicklungen zu ärgern. Was ich als eine politische Strategie beschreiben möchte, in der sich alle Beteiligten im Dauermodus der Aufregung und des Alarms befinden, ist indes womöglich nicht nur persönlich anstrengend, sondern auf Dauer auch kontraproduktiv.

Empörung gilt stets den anderen

Warum ist eine solche Strategie attraktiv? Ganz offenkundig, weil sie mobilisierend wirkt. In der Geschichte der politischen Rhetorik lässt sie sich bis in die Antike zurückverfolgen. Ciceros rhetorisch meisterhafte Rede gegen den Putschversuch seines Widersachers Catilina kann in diesem Sinne gedeutet werden. Es gelang dem Staatsmann Cicero ganz offenkundig, gegen den damaligen "Populisten" zu mobilisieren. In der Französischen Revolution haben sich die Radikalen als "Enragés" etikettiert. Mit anderen Worten: Aufregung ist ein wirksames Zeichen in Konfliktsituationen und Ausnahmezuständen.

Das Attraktive an der Empörung ist, dass sie stets den anderen gilt, niemals sich selbst. Die Politik der Empörung hebt die Beteiligten in die Höhe, empor. Wer aufgebracht ist, ist emotional authentisch und hat deshalb von vornherein recht, moralisch und politisch. Wer über die Gegenseite empört ist, der will erst gar nicht mit ihr reden, der mobilisiert die eigenen Leute, gewinnt aber kaum neue Anhänger. Kurzum, rhetorische Aufwallung ist niemals dialogisch, sondern feindbildlich. Wo Empörung sich hochschraubt und verselbstständigt, da stellen sich schnell Opfer- und Verschwörungsnarrative ein. "Das Vaterland ist in Gefahr", diese Formulierung aus der Französischen Revolution hat heute eine völlig neue Bedeutung bekommen.

Aufrüttelnde Feindbildrhetorik

Empörung in der politischen Rhetorik ist historisch betrachtet zumindest seit der Französischen Revolution ein rhetorisches Kalkül der Linken in ihrem Kampf gegen das jeweilige "ancièn regime". Mittlerweile haben sich freilich die illiberalen Rechten dieser Rhetorik bemächtigt. Schon vor seiner Machtergreifung hat Viktor Orbán in seinem Kampf gegen seine politischen Gegner und vor allem gegen die Europäische Union zur Waffe einer aufrüttelnden Feindbildrhetorik gegriffen. Offenkundig sind die Populisten in deren Gebrauch erfolgreicher als ihre unfreiwilligen Lehrmeister, die historisch beleidigte Linke. Der Erfolg der Populisten, rechts wie links, rührt nicht zuletzt daher, dass er mit dem illusionären Versprechen einhergeht, sich national wieder politische Handlungsfähigkeit anzueignen. Damit können ihre liberalen Konkurrenten nicht dienen.

Weder Analyse noch politische Lösung

Im Hinblick auf das politische Ziel, eine offene, das heißt, dialogische und auf Kompromiss gestellte Zivilgesellschaft zu erhalten und auszugestalten, stößt die Rhetorik der Empörung bald an ihre Grenzen. Empörung hält weder eine Analyse noch eine politische Lösung parat. Denn in all den oben erwähnten Themenfeldern ist in einem demokratischen Kontinuum Streit über die richtige, das heißt, angemessene und differenzierte politische Antwort vonnöten.

Empörung macht aus einer affektiven Reaktion und einem moralischen Urteil, dem Befund vermeintlicher oder auch wirklicher Ungerechtigkeit, eine politische Kategorie. Im Fall der demokratischen Linke kommt hinzu, dass aus der Empörung über die Zustände keine wirkliche politische Perspektive erwächst. Angesichts der katastrophalen Niederlagen der sozialdemokratischen und sozialistischen Linken nicht nur in Europa darf die alarmierte Aufgeregtheit auch als Symptom von Hilflosigkeit gesehen werden.

Hirne und Herzen erobern

Es macht einen Unterschied, ob in London und Berlin Hunderttausende von Menschen für Europa auf die Straße gehen oder ob sich Menschen darauf beschränken, gegen eine immerhin gewählte Regierung und überhaupt gegen alles, was nicht passt, zu demonstrieren. Selbst im Bereich einer Politik der Gefühle bestehen andere Optionen: Zuversicht, Hoffnung, Friedfertigkeit und Selbstvertrauen. Der marxistische Querkopf Ernst Bloch, dessen Hauptwerk nicht zufällig Das Prinzip Hoffnung heißt, hat der Linken in ihrem Kampf gegen ihre damaligen Kontrahenten – damals übrigens vergebens – geraten, nicht nur die Hirne, sondern auch die Herzen der Menschen zu erobern. Der heute wieder geläufige Vergleich mit den frühen 1930er-Jahren mag schief sein, aber Ähnlichkeiten sind unübersehbar. In dieser Situation könnte Empörungsabstinenz bedeuten, intellektuell und emotional attraktive europäische Gegenentwürfe zur bestehenden Politik zu entwickeln. Das ist freilich nicht ohne selbstkritischen, unempörten politischen Kassasturz zu haben. (26.10.2018)