Eine Demonstration für eine offene Gesellschaft: Aktivisten mit einem #Unteilbar-Plakat Anfang Oktober vor dem Brandenburger Tor in Berlin.

Foto: Imago/epd/Rolf Zoellner

Wer als westliches Nachkriegskind die Öffnung der Schlagbäume, das Reisen und die Erschließung fremder Sprachen und Kulturen erlebt hat, erblickt in Europa einen faszinierenden Möglichkeitsraum und hat auch die "Nie wieder!"-Botschaft der Kriegsgeneration verinnerlicht. Die Generation X (alias Golf) hatte zur realexistierenden Europäischen Union ein nüchterneres Verhältnis. Sie schätzte den Nutzen von Erasmus-Austausch, Arbeitnehmerfreizügigkeit und EU-Subventionen oder aber geißelte den Neoliberalismus einer von den Multis beherrschten EU und ihre Handels- und Landwirtschaftspolitik. Nun scheint eine dritte Phase angebrochen zu sein: Die Generation Y spürt, dass die westliche Demokratie unter einer völkisch-autoritären Welle in Gefahr geraten ist. Pulse of Europe und La République en Marche bringen tausende Menschen auf die Straßen, auch die zuletzt in Berlin unter dem Slogan #Unteilbar aufgetretene Viertelmillion zeigte eine klar proeuropäische Ausrichtung.

Angst vor Heimatverlust

Das ist bei weitem nicht genug. Euro-Gegner, Souveränisten, Neofaschisten nähren die Angst vor Heimatverlust und sozialem Abstieg, die Visegrád-Staaten bilden eine Verweigerungsfront, die gerne EU-Mittel in Anspruch nimmt, aber jede humanitäre Solidarität verweigert. Massiven Verletzungen der in Art. 2 des EU-Vertrags festgelegten Werteordnung kann die EU schwer entgegentreten, während italienische und österreichische Koalitionspartner bedenkliche Sympathien mit Russlands Wladimir Putin und Ungarns Viktor Orbán erkennen lassen und der CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt die AfD-Wähler (im Unterschied zu den Grünen) den "bürgerlichen Kräften" zuschlägt. Österreich hätte Europa einen großen Dienst erweisen und den Schalter umlegen können, wenn der Wahl des grünen Bundespräsidenten eine entsprechende Regierung gefolgt wäre, während die restliche Union, angefangen mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die weitreichenden Reformvorschläge des französischen Präsidenten Emmanuel Macron für eine vertiefte Union ad acta gelegt hat.

Ein klares Bewusstsein davon, wie stark Europas normative Ordnung, seine Institutionen, Lebenswelten und Gewohnheiten durch äußere und innere Feinde nicht nur in Gestalt von Handelskriegen bedroht wird, ist noch nicht gewachsen, vielleicht zeigen ja die katastrophalen Folgen des Brexits das Ausmaß der wechselseitigen Verflechtungen und durchkreuzen weitere Exit-Fantasien.

Tektonische Verschiebung

Doch unter der politischen Oberfläche findet längst eine tektonische Verschiebung statt, die die rechte und linke Mitte und vor allem die für die europäische Integration so wichtigen Christ- und Sozialdemokratien erodieren lässt. Mit dem Auftauchen der Grünen ist eine postmoderne Spaltungslinie jenseits der klassischen Rechts-links-Opposition entstanden. Naturschutz und Nachhaltigkeitsdenken stellten eine industrielle Moderne infrage, der die produktivistische Linke ebenso verpflichtet war wie wachstumsfixierte Liberal-Konservative. Internationale Organisationen, Konferenzen und Verträge haben diese vor allem in Europa ausgeprägte Polarisierung globalisiert, mit der Nachhaltigkeitsagenda der Vereinten Nationen und der Pariser Klimakonferenz erreicht die grüne Herausforderung auch autoritäre Regime. Jüngste Extremwetterereignisse und Klimaprognosen haben die Dringlichkeit globaler Lösungen unterstrichen.

Mit dem Widerstand gegen Einwanderer und Flüchtlinge aus Afrika und arabisch-islamischen Gesellschaften ist eine weitere Spaltungslinie aufgebrochen. Ethno-nationalistische Bewegungen und Regierungen lehnen universalistische Flüchtlingshilfe, geregelte Migration und kulturellen Pluralismus ab. AfD-Chef Alexander Gauland hat jüngst unterstrichen, wo er mit Trump, Putin und ihren europäischen Mitstreitern den Zentralkonflikt verlaufen sieht: zwischen Globalisten und Souveränisten, aus der weißen, christlichen Mehrheit im Westen macht er eine von "Umvolkung" bedrohte Minderheit. Nicht zufällig gehört die radikale Rechte zu den verbohrtesten Leugnern des Klimawandels, sie bekämpfen globalen Klimaschutz und halten an einer anachronistischen Energie- und Verkehrspolitik fest. Klimawandel, Artensterben und damit verbundene Gesundheits- und Sicherheitsrisiken haben ökologische Themen mit aller Macht auf die Tagesordnung gesetzt, und sie akzentuieren die Debatten über Flüchtlinge und Heimat anders, indem der Klimawandel als Auslöser weiterer Flüchtlingsbewegungen aus den am meisten betroffenen Regionen des "globalen Südens" erkannt wird und allerorts heimatliche Lebensgrundlagen bedroht.

Dystopie nicht zwingend

Wenn in ganz Europa Wahlergebnisse für Christ- und Sozialdemokraten einbrechen, kann dann Grün die braune Welle stoppen und dauerhaft die Tagesordnung bestimmen? Niemand ist auf Dauer erfolgreich mit dem ständigen Warnen vor Natur- und Sozialkatastrophen, keine Partei kommt mit einem einzigen Thema aus. Eine dystopische Zuspitzung ist aber nicht zwingend, denn die neuen sozialen Bewegungen haben auch Utopien eines anderen und besseren Lebens entworfen und mehrheitsfähig gemacht: entspannte Verhältnisse zwischen Generationen und Geschlechtern, sinnvolle Arbeit, solidarische Gesellschaften, friedliche Konfliktlösung. Das ist der überfällige Themenwechsel gegen die Dauerbeschallung von rechts. Eine offene und nachhaltige Gesellschaft ist visionär und konkret genug. Nicht von ungefähr tut sich da eine weitere Spaltungslinie auf: die offene europäische Gesellschaft gegen den Rückfall in aggressiven Nationalismus. Ökologische Alternativen sind nur multilateral zu verwirklichen und angewiesen auf die Europäische Union. Deutlicher müssen sich die Grünen deswegen, im Blick auf die anstehende Schicksalswahl des EU-Parlaments im Mai 2019, aus ihrem Milieu heraus europäisch und international ausrichten. (Claus Leggewie, 28.10.2018)