Als wir wieder auf die Autobahn biegen, erwähnt Hannes Benedetto Pircher fast beiläufig: "Manchmal muss ich auch Anwalt der Toten sein!" – und Angehörige vor sich selbst schützen ...

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Der Autor Mario Schlembach: "Hannes half mir durch meinen Nebel – und nicht erst da erkannte ich, welch unschätzbaren Wert seine Arbeit hat."

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Sitzen ein Grabredner und ein Totengräber in einem Auto ..." – was wie der Anfang eines schlechten Witzes klingt, ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Bevor wir in den Wagen steigen, kennen wir uns nicht. Dennoch, ein gemeinsames Ziel verfolgend, begrüßen wir uns herzlich. Und als Hannes seine Stimme erhebt, wird mir schlagartig bewusst, dass ich ihn bereits mehrmals in seiner Funktion als Trauerredner erlebt habe: Wiener Zentralfriedhof. Wie jeden Morgen öffne ich mit dem verantwortlichen Arrangeur der Bestattung den Deckel des Sarges. Wir kontrollieren, ob die Leiche noch vorzeigbar oder bereits drüber ist. In der Regel wollen die Hinterbliebenen den Verstorbenen nicht mehr sehen, was bei einer Wartezeit von circa zwei Wochen – zwischen Eintreten des Todes und Abschiedszeremonie – auch zu empfehlen ist; aber wir müssen für jede Ausnahme vorbereitet sein.

Nach Verwandtschaftshierarchie platziere ich die Kränze auf Eisenständern um die Tumba und ziehe mir anschließend meine Gardeuniform über, in der ich an die eintreffenden Trauergäste die Gedenkbilder verteile oder sie um einen Eintrag ins Kondolenzbuch bitte. Kurz vor Beginn der Feier schließe ich die Tür, aber kein Pfarrer oder Funktionär irgendeiner Religionsgemeinschaft steht diesmal vorn, sondern ein Mann im schwarzen Anzug mit krausen Haaren und warmen Augen. Seine Stimme trifft einen Ton, der nicht von außen zu mir dringt, sondern als ob fremde Gedanken in meinem Kopf Form annehmen würden. Ruhig und ohne Schnörkel beginnt er seine Ansprache, die in keiner Weise dem Singsang gleicht, den ich sonst gewohnt bin. Befreit von den Zwängen der Liturgie lerne ich den Toten zum ersten Mal als Menschen kennen. Nach diesem Ereignis habe ich mich manchmal von meinen Zeremonien weggeschlichen, nur um diese Nekrologe zu hören.

Die eigentliche Arbeit

Autobahn. Vorbeirauschende Landschaft. Hannes lenkt den Wagen, und ich sitze auf dem Beifahrersitz. Für Stunden fahren wir quer durch Österreich, um einem gemeinsamen Freund bei einem großen Verlust beizustehen.

Einige Details zu meiner Person hat Hannes bereits erfahren, aber er möchte jetzt mehr über mich wissen. Ich erzähle von meiner Kindheit am Friedhof, von meiner Zeit als Bestattungshelfer und von meinem Vater, dem Totengräber, von dem ich die Geschäfte übernehme. Sobald meine Rede zu stocken beginnt, wirft er kleine Fragen ein, um meinen Fluss aufrechtzuerhalten. In der Art, in der ich spreche, erahnt er wohl bereits, dass in mir etwas schlummert, was noch keinen Abschluss gefunden hat.

Und als mein beredtes Schweigen endet, beginnt unser Dialog: Sein funeralrhetorisches Handwerk versteht Hannes als Dienst am Menschen. Dieser bestehe vor allem darin, Menschen aufmerksam zuzuhören, ebenso unaufdringlich wie genau, und durch die Art und Weise, die ihm anvertraute Aufgabe wahrzunehmen, die unantastbare Würde jedes Menschen zu affirmieren, ja, zu feiern. Zum Beispiel dadurch, dass Hannes dafür sorgt, dass das Leben einer Person nicht zum Gegenstand einer Bilanzrede gemacht wird, "deren Wertekriterien Lebenssystemen entstammen, die vom Kinderkriegen über die Arbeitswelt bis zum Sterben mehr und mehr der Logik der Verwertbarkeit gehorchen. Im Zeitalter der Vermarktung des gesamten Lebens droht tatsächlich auch die Würde des Menschen zur Ware zu werden."

In jeder Abschiedssituation hat die Grabrede unterschiedliche, besondere Funktionen zu erfüllen. Was allein schon daraus erhellt, dass nicht jede Abschiedssituation eine Trauersituation darstellt. "Trauer ist ja immer der Preis, den ich dafür zahle, dass ich für einen Menschen Liebe empfinde." Hannes ist aber auch für Menschen da, deren Beziehung zum Toten nicht gelebt wurde oder von versäumter Versöhnung, Ressentiments oder gar Hass geprägt ist, oder für Menschen, die von Schuldgefühlen gegenüber dem Toten so beherrscht werden, dass sie noch gar nicht in der Lage sind, um den Toten zu trauern. "Gar nicht so selten bin ich für Menschen da, die nicht den Toten, sondern sich selbst betrauern."

Aber was Hannes in jeder Situation wichtig ist, spiegelt sich für ihn in der jeden Tag neu zu stellenden Frage wider: "Was kann ich tun, um in Menschen Leben zu fördern und zu entfalten anstatt zu mindern? Wie kann ich dazu beitragen, dass in den erschütterten Seelen dem Leben aufgeholfen wird und nicht den Todesmächten und Todesschatten? Die Menschen sterben die wirklichen Tode ja nie am Ende ihres Lebens, sondern immer während ihres Lebens. Und immer ist es das ungelebte Leben, das am wenigsten abtreten will."

Die eigentliche Arbeit passiert nicht während der Trauerfeier. Manchmal sitzt Hannes nach mehreren, stundenlangen Gesprächen mit den Angehörigen viele Tage über einen einzigen Nachruf, manchmal muss er in wenigen Minuten erfassen, worin seine Aufgabe näherhin bestehen könnte. Zwischen Gesagtem und Gemeintem unterscheiden, Emotionen und deren Ambivalenz verstehen, Blicke sehen, die Worte widerlegen, bedingt Unausgesprochenes hinter dicken Masken messerscharf erfassen.

Ausgrenzung des Todes

Wir stoppen bei einer Raststation. Hannes zündet sich eine Zigarette an und nimmt einen tiefen Zug. Jede Nachfrage meinerseits, jede kleine Geschichte, die ich über erlebte Rituale einwerfe und mir die Auseinandersetzung mit dem Tod zu einem abstrakten Gebilde verkommen ließ, kommentiert er mit einem kaum hörbaren Brummen, das meine Fragen noch weiter befeuert. "Der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird immer seltener. Eine Weile noch, und er wird ebenso selten sein wie ein eigenes Leben", zitiert er Rainer Maria Rilke und weist auf die seit Jahren vollzogene Ausgrenzung des Todes in unserem von kapitalistischen Selbstoptimierungsfantasien geprägten Alltag hin, in dem der Tod als dummdreiste Beleidigung der wettbewerbsfähigen Person apostrophiert werde, wobei nur in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod "Aussicht auf ein eigenes Leben" zu gewinnen sei.

Als wir wieder auf die Autobahn biegen, erwähnt Hannes fast beiläufig: "Manchmal muss ich auch Anwalt der Toten sein!" Was oft Hand in Hand damit gehe, dass er Angehörige vor sich selbst schützen muss, vor den Abgründen, in denen ihre Emotionen sie reißen können. Der Tote selbst kann nicht mehr mitreden. Deshalb könne in einer Rede auch nichts zur Sprache kommen, was dem Toten Anlass geben könnte, mitreden zu wollen oder gar sich verteidigen zu müssen. "Ich danke Ihnen, dass Sie mich davor bewahrt haben, mit meinem Bruder abzurechnen!", hört Hannes dann von Angehörigen. Er kennt die vielen Formen, die Emotionen, die echte Leichen auslösen, propagandistisch zu missbrauchen. "Ich nehme keine Mandate wahr, bei denen von mir erwartet wird, dass ich die Rede dazu verzwecke, ein Parteiprogramm abzuspulen, Werbung für einen bestimmten Swingerclub zu machen oder nationalsozialistisches Gedankengut zu verherrlichen."

Jeder Einzelne hat einen würdevollen Abschied verdient: "Denn der Grabredner kennt keine guten oder schlechten Menschen, weder unter den Lebenden noch unter den Toten, er kennt nur das Gute oder Schlechte, in dem das Menschlein drin- oder feststeckt." Mördern und Ermordeten hat Hannes bereits nachgerufen. Alle von ihnen hatten eine Mutter und einen Vater, die keine Mörder noch Opfer zur Welt gebracht haben. "Jeder von uns hat einen Lebenslauf, aber wir sind nicht unser Lebenslauf!" Ein Credo, das Hannes leitet bei seiner Aufgabe, lebensfördernde Antworten zu finden auf die Frage: Was war dieser Mensch mir? Und nicht: Wer war dieser Mensch? "Nekrologische Poiesis feiert nicht Wikipedia-Personen, sondern Beziehungen, nicht Heldentaten, sondern Menschlich-Allzumenschliches."

Wollte es einfach vergessen

Unsere Autofahrt endet. Bei diesem Begräbnis schweigt Hannes, und ich grabe nicht. Wir sind einfach anwesend und teilen die Trauer um einen von uns beiden geliebten Menschen. Denn – und das ist vielleicht das Wesentlichste, das ich von unserer Reise gelernt habe – in seiner Trauer ist man nie allein.

Hannes hat mir einen Weg gezeigt, mich aus meiner eigenen Verkrustung zu lösen. Als ich einen Menschen verlor, der mir mehr als alles andere bedeutete, trauerte ich nicht. Ich schluckte es runter, wollte es einfach vergessen und stürzte mich manisch in die Todesarbeit. Ich dachte, dass ich im Kern des Feuers die Hitze nicht spüren würde, aber brannte irgendwann aus. Hannes half mir durch meinen Nebel – und nicht erst da erkannte ich, welch unschätzbaren Wert seine Arbeit hat.

Hannes studierte unter anderem bei Umberto Eco, war Mitglied des Jesuitenordens, ist als Schauspieler aufgetreten und hat Stücke inszeniert. Seine theoretischen Gedanken über das Leben als Bühne und die Bühne als Kunst hat er über Jahre hinweg in einem mehr als 1000 Seiten umfassenden Werk mit dem klingenden Titel Das Theater des Ritus gesammelt. Hinter jedem Wort steckt eine unglaubliche Tiefe an Wissen und ist Beleg für eine Universalgelehrtheit, die heute zu verschwinden droht. In seinem jüngsten Buch Sorella Morte: Über den Tod und das gute Leben erzählt Hannes Geschichten vom Menschsein, wie sie der Friedhof schreibt, mithin Satiren, in denen immer die Erkenntnis aufblitzt, dass sterben zu lernen vor allem leben zu lernen heißt.

Nicht immer reden wir über Tote

Vor kurzem hat Hannes dem fünftausendsten Menschen in 15 Jahren nachgerufen. In sein Totenbuch kalligrafiert er jeden Einzelnen. Als Vorschlag für seine eigene Abschiedsfeier hat er in einem roten Ordner folgendes Szenario skizziert: Drei Freiwillige sollen im rasenden Tempo je 100 willkürlich gewählte Namen gleichzeitig rezitieren. "Meine Toten begraben mich, den Toten, dessen Name als der letzte in meinem Totenbuch eingetragen sein wird."

Weniger oft, als wir beide wollen, treffen wir uns in seinem Stammcafé. Nicht immer reden wir über die Toten, aber irgendwann lässt es sich nicht vermeiden, auch über sie zu sprechen, denn sie alle, jeder Einzelne, sind Teil unserer Geschichte geworden. (Mario Schlembach, 1.11.2018)