Egon Schiele 1916 in seinem Hietzinger Atelier.

Foto: Johannes Fischer/Leopold Museum, Wien

"Alles ist lebend tot." Gerade einmal 20 Jahre ist Egon Schiele alt, als er diesen Gedanken in einem Gedicht niederschreibt. Der Tod ist nichts, was sich vom Leben unterscheiden ließe, das Leben ist der Tod: So lässt sich diese lakonische Zeile verstehen, die bis heute nachhallt. Immer wieder wird sie beschworen, wenn es darum geht, die verzerrten Aktdarstellungen, die beseelten Landschaften, die zwischen Würde und Groteske changierenden Porträts dieses Wiener Jahrhundertkünstlers zu erklären.

Tatsächlich ist in Schieles Schaffen der Tod omnipräsent, und nicht nur dort, wo der Künstler traditionelle Sujets wie "Tod und Mädchen" aufgreift. Der Tod muss hier keineswegs – wie oft in der Kulturgeschichte – eine Figur sein, die von außen auf den Menschen zukommt, um diesen abzuholen. Um ihn darzustellen, genügt es Schiele, nah an Leben und Leiden dranzubleiben. In ort- und zeitlosen Akten vermittelt sich die Ausgeliefertheit des Körpers; immer wieder ist es unklar, ob die Verformungen in diesen Körperbildern pathologischer Natur sind. Tote Stadt nannte er Bilder aus Krumau – der Geburtsstadt seiner Mutter -, in denen die Häuser vom schwarzen Fluss gleichsam verschlungen zu werden scheinen.

Keine Angst vor den Schattenseiten: Egon Schieles "Entschwebung (Die Blinden II)" aus 1915.
Foto: Leopold Museum, Wien, Inv. 467

Schiele allein als Pessimisten zu sehen wäre dennoch ein Missverständnis. Was er in dem Bewusstsein, dass Tod und Leben einander durchdringen, schuf, lässt sich vielmehr als eine unbedingte, liebevolle Hingabe zur Natur bezeichnen: "Ich bin Mensch, ich liebe das Leben und liebe den Tod", so lautet eine andere Zeile, die der 20-Jährige niederschrieb, nur acht Jahre bevor er 1918 an der Spanischen Grippe starb.

Die Biografie, der Schiele seine mystische Hingabe abrang, ist indes eine zerrüttete: Schiele ist erst 14 Jahre alt und tief getroffen, als sein Vater, ein Bahnbeamter, nach einer Phase geistiger Verwirrung stirbt. "Ich weiß nicht, ob es überhaupt jemanden gibt, welcher mit solcher Wehmut an meinen Vater sich erinnert", wird er notieren.

Zu diesem Schicksalsschlag kommt nicht nur das Trauma des Ersten Weltkriegs hinzu, sondern auch ein von der Krise des Subjekts geprägter Zeitgeist, der kaum mehr metaphysischen Trost zulässt. Die Philosophie der Aufklärung hat die Religion angegriffen, und die aufstrebenden Naturwissenschaften zerlegen Körper und Geist in immer kleinere Bestandteile, die sich zu keinem Ganzen mehr ordnen lassen. Sämtliche Künste haben sich mit diesem "Zerfall des Individuums" zu arrangieren.

Eine Gegenbewegung bietet der Jugendstil, dessen Zentralfigur Gustav Klimt für Schiele zu einer Art Ersatzvater wird. Mit den Verklärungstendenzen des Jugendstils, dem Versuch, die Wahrheit gesamtkunstwerkend in Schönheit zu ertränken, hat Schiele dennoch wenig am Hut. Zwar schult er seinen Strich zunächst am Vorbild. Statt sich vergoldeten Träumen hinzugeben, studiert er allerdings lieber die bestürzende Wahrheit des verfallenden Leibes.

Egon Schiles "Liegende Frau" (1917).
Foto: Leopold Museum, Wien, Inv. 626

Statt floraler Ornamente malt Schiele in bunten Krakeln den Aussatz auf seine Körperbilder. Die harmlose Erotik Klimts, bei der noch Femmes fatales als sanfte Engel erscheinen, ist bei ihm weit weg: Wie Wunden wirken in seinen illusionsbefreiten Aktdarstellungen die oftmals knallrot hervorstechenden Genitalien. Weniger als Spiel denn als Symptom der unheilbaren Krankheit Leben erscheint die Sexualität. Schiele bewegt sich von den Secessionisten weg in Richtung der sozial Schwächeren, malt häufig Proletarierkinder."Ihn faszinierten die Verwüstungen der schmutzigen Leiden, denen diese an sich Unschuldigen ausgesetzt sind", so Freund und Förderer Arthur Roessler. Stets ging es ihm darum, die der Tragik der Existenz abgerungene Würde der Menschen ins Bild zu setzen.

Der Erotomane

In welchem Maße Schieles Akte pornografisch oder provokant zu nennen sind und wie sehr sie einer "höheren Wahrheit" verpflichtet sind, ist eine Frage, die bis heute für Diskussionen sorgt. Das Bild vom Erotomanen Egon Schiele besteht hartnäckig, wobei ein Grundstein des Klischees die berüchtigte "Neulengbach-Affäre" ist: Schiele wurde vom Vater eines seiner Modelle Unzucht mit Minderjährigen vorgeworfen. Die Anklage des Übergriffs erwies sich als haltlos, dennoch musste er, da Kinder seine Akte hatten sehen können, für 24 Tage ins Gefängnis – eine weitere Erschütterung.

Die existenzielle Krise bedeutete eine Zäsur auch in der Weltanschauung. Stärker als zuvor wandte Schiele sich der spirituellen Dimension seiner Kunst zu. Er konzentrierte sich zudem auf einen Werkstrang von Blättern, die meist Figuren in mönchischer Kleidung zeigen und religiös anmutende Titel wie Bekehrung tragen.

Diese Arbeiten gaben Rätsel auf, 2009 will Thomas Ambrozy jedoch eruiert haben, dass Schiele sich darin auf den Kult des Franz von Assisi bezieht. Mit dessen Hinwendung zu den Armen habe sich Schiele identifiziert. Dafür, dass Schiele über den nackten Körper zu einer neuen Religiosität fand, sprechen auch seine Pläne für ein Mausoleum, das "Weltbegriff, Lebensmühen, Tod, Auferstehung und Ewiges Leben" thematisieren sollte. Umgesetzt wurde es nie. Die Skizze mag aber die verklärende Vermutung nähren, Schiele habe das tragische Jahr 1918 vorausgesehen: Er sah Klimt am Sterbebett, es erlag seine schwangere Frau Edith Harms der Spanischen Grippe. Das Porträt, das er von ihr am Sterbebett anfertigte, sollte sein letztes Werk sein. (Roman Gerold, 31.10.2018)