Die Mittagspause wurde auch schon um 1900 zelebriert. Martin Bruegel hat erforscht, was das Ritual für Männer und Frauen und ihre politische Einstellung bedeutete.

Foto: Heribert Corn www.corn.at

Kaum ein Zitat drängt sich im Kontext von Ernährung und Geschichte so sehr auf wie das Marie-Antoinette in den Mund gelegte "Wenn sie kein Brot haben, so mögen sie Kuchen essen". Es waren vermutlich Revolutionäre, die den angeblichen Ausspruch der österreichischen Königin von Frankreich verbreiteten, und sie wussten um seine aufstachelnde Wirkung: Das hungernde Volk fühlte sich in seinem substanziellen Leid verhöhnt. Der weitere Verlauf der Geschehnisse ist bekannt.

Von der Bedeutung des Essens als sozialer Spiegel ist auch der Historiker Martin Bruegel überzeugt. Sein Augenmerk gilt den Mahlzeiten der französischen Arbeiterklassen. Kürzlich war Bruegel zu Gast an der Universität Wien, wo er in einem Vortrag im Rahmen des Workshops "Was uns Ernährung über Gesellschaft sagt" ein Bild von Paris um 1900 zur Mittagszeit zeichnete.

STANDARD: Was können uns Essensumstände über frühere Gesellschaften sagen?

Martin Bruegel: Als Historiker sieht man durch das Prisma der Ernährung soziale Umstände etwas anders, als wenn man etwa nur Gehälter in Betracht zieht. Und hier interessiert uns auch nicht nur der Kaloriengehalt von Mahlzeiten, sondern auch Verhaltensmuster, alltägliche Routinen, die wir mit verschiedenen Quellen zu dokumentieren versuchen. Dazu gehören quantitative Untersuchungen aus der Zeit, aber auch Sozialreportagen, Autobiografien und Gewerkschaftsdokumente.

STANDARD: Sie beschäftigen sich vor allem mit der Arbeiterklasse. Wie sah diese im Paris der Jahrhundertwende aus?

Bruegel: Bei etwa 2,7 Millionen Einwohnern innerhalb der Stadtgrenzen gab es mindestens eine Million Arbeiter, die hier tätig waren. Die meisten trafen morgens aus den Vororten, wo sie günstiger wohnten, ein und verließen die Stadt abends wieder, vor allem zu Fuß. Paris war auch eine Stadt der Arbeiterinnen: Bis 1910 stieg die Zahl der arbeitenden Frauen stark an, und sie stellten etwa 46 Prozent der Erwerbstätigen. Damit war ihr Anteil größer als in anderen Städten. Zum Vergleich: Heute sind es 51 Prozent.

STANDARD: Geschlechtsunterschiede spielen bei Ihrer aktuellen Arbeit eine Rolle.

Bruegel: Es haben sich Muster abgezeichnet, die natürlich damit zusammenhängen, dass Männer in ihren typischen Domänen eher für spezialisierte Jobs angestellt wurden als Frauen und mehr verdienten. Durch den langen Arbeitsweg musste das Mittagessen generell auswärts eingenommen werden. Männer gingen dafür oft in Gaststätten oder Cafés und ließen sich ein Menü – Vorspeise und Hauptgericht, ähnlich, wie wir es kennen – servieren.

STANDARD: Aber keine Nachspeise?

Bruegel: Kaum. Es gibt viele Quellen, die eine Abneigung der Pariser Arbeiterschicht gegen Zucker und Süßspeisen erwähnen, aus verschiedenen Gründe. Unter anderem assoziierte man mit Desserts oft etwas Frivoles, "nur für die Bourgeoisie gut". Das führte so weit, dass in Frankreich Staat und Zuckerindustrie ab Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder Kampagnen führten, um den Konsum zu steigern – immerhin sollte Zucker den Arbeitern Energie liefern, und die Zölle waren gesunken. Erst in den 50er-Jahren gelang das Unterfangen.

STANDARD: Wie sah die Mittagspause von Arbeiterinnen aus?

Bruegel: Frauen waren eher diejenigen, die Essen von daheim mitbrachten und aufwärmten. Sie nahmen oft kleine Mahlzeiten in Milchläden oder am Imbiss zu sich – das typische Fastfood der Zeit ist eine Tüte Pommes frites mit etwas Schinken oder einer sauren Gurke. Meist aßen sie direkt am Arbeitsplatz oder draußen in den städtischen Parks. Bemerkenswert ist der Unterschied in der Dauer: Arbeiterinnen haben hastig gegessen, innerhalb von zehn bis 25 Minuten.

STANDARD: Wie sah der Rest ihrer Mittagspause aus?

Bruegel: Die Zeit nutzten sie auch, um Erledigungen für die Familie zu machen. Sie kauften möglichst günstig Lebensmittel ein und Utensilien, um Kleidung zu Hause zu reparieren. Ärmere sammelten sogar Holz auf der Straße ein.

STANDARD: In Gaststätten waren sie also selten anzutreffen?

Bruegel: Ja, bis auf manche, die es sich leisten konnten. Allerdings waren Frauen bei vielen Wirten als Gäste unbeliebt, weil sie selten Wein zum Essen tranken – und das in Zeiten der Überproduktion. Eine Arbeiterin berichtete, dass ihren wassertrinkenden Kolleginnen zur Strafe ein Aufschlag berechnet wurde. Dabei war die Mahlzeit für sie im Verhältnis ohnehin teurer als für Männer: Frauen bezahlten dafür etwa dreißig Prozent ihres durchschnittlichen Tageslohns, Männer zwanzig Prozent.

STANDARD: Lassen sich solche Erkenntnisse auch international vergleichen?

Bruegel: Dahingehend sollte noch mehr geforscht werden, es scheint teils recht unterschiedlich zugegangen zu sein. Was man zu Ernährung und Kulinarik in Europa sagen kann, ist, dass die französische Küche in dieser Zeit noch ein Vorbild war. Aber es gab eine große Diskrepanz zwischen dem Ruhm der Gastronomie und ihren Arbeitsbedingungen. Ich bin auf eine Petition gestoßen, die bessere Verhältnisse in den Küchen – mehr Licht, mehr Luft, mehr Raum – forderte. Die rund 28.000 Unterschriften stammen von französischen Köchen, von denen mehr als die Hälfte in London, New York, Madrid und anderen Großstädten arbeitete.

STANDARD: Sie sagen, dass sich die Essensroutinen auch auf das politische Engagement der Arbeitenden ausgewirkt hat. Wie?

Bruegel: Viele Arbeiter versuchten, die Mittagspause so lang zu gestalten wie möglich – sie streikten für eine Dauer von mindestens einer Stunde, einige sogar für zwei Stunden. Die Arbeitsstellen von Frauen waren prekärer, sie konnten relativ schnell ersetzt werden. Daher wählten sie eher Petitionen als Ausdrucksmittel. Ihnen waren geschützte Essensplätze wichtig, um nicht mehr bei jedem Wetter draußen essen zu müssen. Was und wie die Menschen essen, hilft ihnen, sich bewusst zu machen, was ihre materiellen Lebensbedingungen sind. Sie erfahren das durch die Mahlzeiten und drücken es wiederum durch ihre Bedürfnisse hinsichtlich des Essens aus. (Julia Sica, 3.11.2018)