Auf der Suche nach Superhelden könnte Entertainmentmulti Disney bei der neuesten Schöpfung eines Jazzmusikers fündig werden. Iron Man, Captain America, Thor und Ant-Man würden dann Wayne Shorters Fantasiehelden Emanon als Kumpel im Kampf gegen Loki und seine Freunde des Bösen begrüßen können. Shorter schickt Emanon in ein Multiversum der vielen Parallelwelten. Es gilt, geplagte Bewohner über die Sünde der Ignoranz und die Kälte der Unterdrückung aufzuklären und ihnen zu helfen, ihre existenziellen Ketten zu sprengen.

Einer der letzten Großen, Saxofonist Wayne Shorter: Sein Riesenwerk "Emanon" (bei Universal) entführt in einen Kosmos der orchestral eingehüllten spontanen Großkunst.
Foto: Universal

Emanon sieht ein bisschen aus wie der junge Shorter aus jener Zeit, da er bei Art Blakey's Jazz Messengers tätig war. Damals ahnte er nicht, dass ihn Miles Davis engagieren würde. Und sicher ahnte er nicht, dass er nun mit Emanon ein so stattliches Projekt veröffentlichen können würde: Der Superheld, dessen Name rückwärts gelesen No Name ergibt, ist die Übergestalt eines aufwendigen Gesamtkunstwerks, bei dem Shorter seine Fantasien von Randy DuBurke als Comicbuch inszenieren ließ.

Der stolze Wälzer – ein Mix aus Graphic Novel und Musik – trägt in seinem Bauch drei CDs (kein Download, kein Stream möglich) und würde selbst Saxofonist Kamasi Washington frappieren. Der zurzeit als hip geltende Jungjazzer glänzt ja selbst mit opulenten Veröffentlichungen. Mit Sicherheit würde Washington aber auch hören, dass er – was das Saxofon anbelangt – von Shorter noch Lichtjahre entfernt ist.

Großes Orchester

Beruhigt wäre Washington hingegen bezüglich Shorters kompositorischen Umgangs mit einem Orchester (bei der Emanon-Suite das Orpheus Chamber Orchestra). Der Klangkörper hat kilometerlange Linien und turmhohe Akkordpyramiden herumzuschieben. Da sind Washingtons Soundwände aus Big Band und Streichern charmanter.

"Mit einem Orchester zu arbeiten ist, als ob man eine Straße überquert und mit einem Nachbarn spricht, mit dem man zehn Jahre lang kein Wort gewechselt hat. Aber das ist, was die Welt heute braucht: dass man Kräfte vereint", sagt zwar Shorter. Die Vereinigung der Kräfte – Orchester und Shorters jazziges Quartett – führt jedoch nur vereinzelt zu spannenden Momenten. Wo sich orchestrale Unruhe und Beiträge von Pianist Danilo Pérez, Bassist John Patitucci und Drummer Brian Blade bündeln, entsteht Musikleben. Sehr hitzig klingt diese Suite, die zwischen Third Stream und Big-Band-Konvention mit impressionistischer Tönung pendelt, bei Shorters Auftritt.

Wenn er in die komponierte Struktur solierend einbricht, hebt er Stücke wie Pegasus auf eine neue Qualitätsebene.

Album-Preview von Wayne Shorters "Emanon".
Blue Note Records

Shorters Emanon und seine Musik werden hochkarätig vor allem aber durch die zweite und dritte CD: Live im Londoner Barbican aufgenommen, stellen sie reine Quartettmusik vor, bei der Shorter und die Seinen vollends zu sich kommen, wenn sie die Suitenstücke subjektiv deuten. Prometheus Unbound bringt einen improvisatorischen Exzess der Extraklasse. Shorter ist auf der emphatischen Höhe seiner Kunst.

Jedem sein Solo

Im August 85 geworden, bildet Shorter mit den Kollegen ein Energiefeld, das an Joe Zawinuls Statement zur Arbeit bei Weather Report erinnert, einer Band, bei der Shorter als Coleader wirkte: "Jeder spielt solo, keiner spielt solo", so Zawinul. Und tatsächlich wird bei Emanon eine Feierstunde kollektiver Spontaneität abgehalten, bei der Stücke als Fragmente aufscheinen und durch eine Demokratie der Instrumentalstimmen neu entworfen werden.

Es sind bewusst paradoxe Gestaltungsakte dahinter, so Shorter: "Wir haben gemerkt, dass immer, wenn wir nicht probten, Besonderes passiert. Deshalb nehmen wir live auf. Wir fangen zwar mit einer Songform an, aber sie soll uns nicht dominieren, kein Dogma sein. Die Form darf uns nichts diktieren, sonst gerät alles zu Formalismus." Eine Musik, die aus eingegangenen Risiken entsteht. Eine Band, die es passieren lässt. Schön und gut, eines ist aber damit klar: Sollte Emanon dereinst an der Seite von Ironman kämpfen, wird Shorters Musik dennoch nicht als Soundtrack ertönen. Sie wäre für das geschäftstüchtige Disney-Universum zu intensiv und komplex. (Ljubiša Tošić, 31.10.2018)