Die ersten Anzeichen kommen unmittelbar. Sami (Zakaria Ben Ayed) plagen Kopfschmerzen. Auf den 19-Jährigen warten die letzten Prüfungen, und vielleicht ist es tatsächlich nur der Schulstress, der dem jungen Mann körperlich, aber auch psychisch zusetzt. Die Eltern sind besorgt, wollen helfen, doch es fällt ihnen schwer, an Sami heranzukommen.

Die Schule verlässt er jeden Tag, die Familie und das Land nur einmal: Sami (Zakaria Ben Ayed) in "Weldi".
Foto: Viennale

Vor allem Vater Riadh (Mohamed Dhrif), der als Hafenarbeiter in Tunis kurz vor der Pensionierung steht, will die Symptome deuten. Da müsse doch mehr dahinterstecken. Doch die Unter suchung im Krankenhaus bringt ebenso wenig Erkenntnis wie der Besuch beim Psychiater, der einen Stimmungsaufheller verschreibt. Was Riadh und seine Frau Nazli (Mouna Mejri) nicht wahrhaben wollen: Was Sami plagt, ist eine Abwehrreaktion – auf die Schule, auf die Erwartung, die Universität zu besuchen, das Zuhause, vor allem auf die Eltern. Eines Morgens ist Sami verschwunden. Er soll nach Syrien gegangen sein, um dort für den "Islamischen Staat" zu kämpfen.

Schwerer Druck

Weldi (Dear Son), geschrieben und inszeniert vom tunesischen Filmemacher Mohamed Ben Attia, wurde von Jean-Pierre und Luc Dardenne produziert. Dass sich der sozialkritische Zugang des belgischen Brüderpaars vor allem zu Beginn auch in diesem Film findet, ist also keine Über raschung. Ben Attia macht den ökonomischen Druck, der den Alltag der dreiköpfigen Familie bestimmt, von Beginn an spürbar: beim Einkaufen im Supermarkt, beim Errechnen der nächsten Raten und im Wunsch der Eltern, dem Sohn eine bessere, das heißt finanziell gesicherte Zukunft zu ermöglichen. Mit dem Druck und der Anspannung wächst indes die Beklemmung.

Trailer zu "Weldi".
Cine maldito

Dear Son sucht nicht nach den Ursachen von Samis Entschluss in der Psyche des jungen Mannes, sondern beschreibt die Auswirkungen auf dessen Umfeld. Es gibt keine Fehler, die die Eltern gemacht hätten – weshalb Riadhs Entschluss, über die Türkei nach Syrien reisen zu wollen, um den verlorenen Sohn heimzuholen, so absurd wie hoffnungslos wirkt. Höchstens wie ein böser Traum, der auf das böse Erwachen folgt. Es gibt keine Wiedergutmachung, sondern nur die bis in die Familie reichende, radikale Entfremdung.

Fast beiläufig verschiebt Ben Attia die Aufmerksamkeit von Sami zunehmend auf den Vater, mithin auf das "alte" Tunesien vor dem Arabischen Frühling. Die Wünsche dieser Generation, die noch unter dem Autokraten Ben Ali versuchten, sich ein kleinbürgerliches Glück zu erarbeiten, haben sich nicht erfüllt. Die soziale Not schafft keinen Zusammenhalt, sondern Abhängigkeit.

Mehrere Abschiede

Spätestens wenn Sami verschwunden ist, wird er zu jenem Geist, der er schon zu sein schien, als er noch da war. Die Stärke von Ben Attias Inszenierung liegt darin, die sozialen und politischen Bedingungen mit dieser Geisterhaftigkeit zu konfrontieren: Was würde geschehen, wenn Riadh den Sohn nach Tunis zurückbringen könnte? Und was würde aus ihm werden, wenn er denselben Weg einschlagen würde wie der Vater? Dear Son ist ein Film des Abschieds: von der Idee der Zukunft in einem Staat für alle – und vom einzelnen Menschen. (Michael Pekler, 5.11.2018)